102 4.2 Kulturelle Evolution Aus Erfahrungen zu lernen ist für das tägliche Überleben vieler Tiere entscheidend (siehe am Puls 6, S. 156 ff.). Bei vielen Tierarten geben Eltern ihre erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten an ihre Nachkommen weiter – es entstehen Traditionen oder Kulturen. Beim Menschen ist die Weitergabe von Erfahrungen sicherlich am stärksten ausgeprägt. Die Weitergabe erworbener Fertigkeiten von Generation zu Generation, das Kopieren des Verhaltens von Vorbildern, Lernen und Lehren sind Bestandteil der kulturellen Evolution. Der Mensch wird von ihr in einem ähnlichen Maße beeinflusst wie durch die biologische Evolution. Unser Sprachvermögen beispielsweise baut auf einer genetischen Grundlage auf – das FOXP2Gen spielt eine wichtige Rolle dabei. Es sorgt für die Aktivierung von anderen Genen. Mutationen im FOXP2-Gen des Menschen führen zu Störungen im Sprachvermögen. Manche Sprachwissenschafterinnen und -wissenschafter schließen von der Beobachtung der Entstehung von Mischsprachen, wie dem Kreolischen, und der Leichtigkeit, mit der Kinder ihre Muttersprache erlernen, sogar auf einen Sprachinstinkt, also auf eine „angeborene universelle Grammatik“. Möglicherweise lernen wir auf Basis dieser Anlage die unterschiedlichsten Sprachen mit ihren jeweiligen Vokabeln und Grammatiken. Kulturelle und natürliche Evolution haben eine Reihe von Ähnlichkeiten – neben vielen Unterschieden. Beispielsweise können Kulturen „mutieren“. Attraktive, neue Ideen oder Moden breiten sich mit einer ähnlichen Dynamik in Populationen aus wie neue Allele. Anders als in der natürlichen Evolution werden Bestandteile von Kulturen aber nicht nur von Eltern auf Nachkommen „vererbt“, sondern auch „horizontal“ – das heißt zwischen Nichtverwandten – weitergegeben. Kulturelle Evolution und natürliche Evolution wirken heute gemeinsam auf die menschliche Population Gene und Kultur Milchwirtschaft und Evolution Kulturelle und natürliche Evolution gehen oft Hand in Hand. Die Erfindung des Ackerbaus und der Viehzucht veränderte in der Jungsteinzeit die Selektionsdrücke. Wie Analysen fossiler DNA zeigen, konnte zuvor Milchzucker (Laktose) nur von Neugeborenen und Säuglingen verdaut werden. Ältere Kinder und Erwachsene vertrugen keine Milch. Ihnen fehlte das Enzym Laktase, das nötig ist, um Milchzucker abzubauen. Als vor rund 8 000 bis 10 000 Jahren mit der Züchtung von Schafen, Ziegen und Rindern begonnen wurde, profitierte davon anfangs eine kleine Minderheit der Bevölkerung, die wegen einer zufälligen Mutation Milch auch in späterem Alter verwerten konnte. Die Viehhaltung führte dazu, dass heute 85 % der erwachsenen Europäerinnen und Europäer Milch vertragen, wie zB auch das Rinderzucht betreibende Volk der Tutsi in Ostafrika. Der Anteil liegt bei Völkern, die keine oder kaum Milchwirtschaft betreiben, unter 10 % (kAbb. 14). Die Fähigkeit, Milch zu verdauen, mussten Erwachsene erst evolvieren Laktosetoleranz in der Bevölkerung 100% der Bevölkerung sind laktosetolerant 100% der Bevölkerung sind laktoseintolerant keine Daten indianische Herkunft afrikanische Herkunft hispanische Herkunft asiatische Herkunft europäische Herkunft australische Ureinwohner Abb.14: Verbreitung des Laktase-Gens. Die verschiedenen Grüntöne verdeutlichen die Häufigkeit der Milchzuckertoleranz. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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