am Puls Biologie 6, Schulbuch

Aufgaben 31 Nervensystem Blick in die Forschung Was schmeckt? bitter sauer salzig süß Abb. 31: Hänigs veraltete Zungenkarte, mit den Sinnesbereichen für bitter, sauer, salzig und süß. Vielleicht hast du irgendwann von einer „Zungenkarte“ gehört. Im Jahr 1901 hat der deutsche Physiologe David Hänig einen Versuch gemacht, den über ein Jahrhundert lang tausende Schulkinder wiederholen mussten: Wattestäbchen mit süßen, sauren, salzigen oder bitteren Lösungen werden auf bestimmte Bereiche der Zunge getupft. Hänig fand so Bereiche, in denen die Zunge für diese Geschmacksrichtung empfindlich ist, und erstellte die bekannte Karte der Zunge. Heute weiß man, dass diese Zungenkarte nicht der Realität entspricht. Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Verteilung der Sinnesbereiche nicht so klar ist. Doch woher kommt dieser Fehler, und wie ist es wirklich? Das Problem war, dass Hänig seine Karte als Linienzeichnung präsentierte (kAbb. 31). Er wusste wohl, dass die gesamte Zunge für alle Geschmacksqualitäten empfindlich ist, aber die Empfindlichkeit variiert. Hänig stellte also dar, wo die Zunge besonders empfänglich für süß, sauer, salzig und bitter ist. Als allerdings die Zeichnung mehr und mehr Eingang in die Lehr- und Schulbücher fand, blieb die gesamte Wahrheit auf der Strecke: So mussten Schulkinder hundert Jahre lang lernen, dass die Zunge nur in bestimmten Bereichen gewisse Geschmäcker empfinden kann. Zu diesem vielleicht bekanntesten Missverständnis der Sinnesphysiologie kommt noch ein weiterer Fehler: Hänig untersuchte die Zunge auf die vier genannten Geschmacksrichtungen und schrieb, dass die Zunge nur diese (und nicht mehr) unterscheiden kann – die wahre Geschmacksvielfalt ergibt sich aus den Gerüchen der Speisen. Diese Erkenntnis kann jeder bestätigen, der mit stark verstopfter Nase isst: Viel schmeckt man hier nicht. Dennoch hatte Hänig etwas übersehen. Bereits 1909 veröffentlichte der japanische Chemiker Kikunae Ikeda eine Arbeit über eine fünfte Geschmacksrichtung, die er anhand von Versuchen mit einer japanischen Suppenwürze (Dashi) gefunden hatte: Es handelt sich um den würzig-pikanten Geschmack, der als Umami beschrieben wurde. Der entsprechende Rezeptor reagiert auf das Aminosäuresalz Glutamat, das aus diesem Grund auch als Geschmacksverstärker verbreitet ist. Trotz Ikedas Publikation blieb diese Erkenntnis weitgehend unbekannt, was zum Teil sicher daran lag, dass Ikeda seine Arbeit auf Japanisch veröffentlichte. Ein anderer Grund ist, dass die Zunge eine sehr hohe Reizschwelle für Umami hat. Erst seit 1980 wurde der „fünfte Geschmack“ nach und nach Thema der Forschung. 2002 wurde der entsprechende Rezeptor und die dazugehörigen Gene nachgewiesen (Lindemann et al., 2002). Und das ist es? Mitnichten! Seit wenigen Jahren wird die Existenz einer sechsten Geschmacksqualität diskutiert – fettig. Ob es sich dabei tatsächlich um einen primären Geschmack handelt, ist zurzeit Gegenstand der Forschung (Keast & Costanzo, 2015). süß salzig sauer bitter umami Abb. 32: Die Empfindlichkeit für verschiedene Geschmacksqualitäten ist nicht auf bestimmte Bereiche der Zunge beschränkt. Stattdessen finden sich für jeden Geschmack auf der gesamten Oberfläche entsprechende Rezeptoren, allerdings in unterschiedlicher Dichte. 1 E/S Stelle den Versuch von Hänig nach. Versuche zuerst, seine Hypothese zu bestätigen und sie dann zu widerlegen. Überlege, inwieweit du den Versuch in beiden Fällen unterschiedlich planen und durchführen musst. 2 S Ziehe aus diesem Text Erkenntnisse über die Arbeitsweise von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern in den Naturwissenschaften. 3 S Argumentiere im Hinblick auf den obigen Text, inwieweit man Wissenschaft trauen kann. Diskutiere, was nötig ist, um wissenschaftlichen Ergebnissen trauen zu können. Literatur: Hänig, D. P.: Zur Psychophysik des Geschmackssinnes. Engelmann Vlg. 1901. Ikeda, K.: Shin chomiryo ni tsuite [New seasoning]. Tokyo Kagaku Kaishi, 1909, Vol. 30, I. 8, p. 820–836. [Japanisch] Lindemann, B.; Ogiwara, Y.; Ninomiya, Y.: The discovery of umami. In: Chemical senses. 2002, Vol. 27, I. 9, p. 843–844. Keast, R. S. J.; Costanzo, A.: Is fat the sixth taste primary? Evidence and implications. In: Flavour. 2015, Vol. 4, I. 1, p. 5. Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv

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