global 6. Geographie und Wirtschaftskunde, Arbeitsheft

Konvergenzen und Divergenzen europäischer Gesellschaften erörtern 16 Bevölkerungs- und Familienpolitik in Deutschland Bevölkerungspolitik ist in Deutschland kein Tabu mehr (…) Mit Neid schauen die Deutschen manchmal auf das Nachbarland Frankreich – denn dort gibt es das Problem „Nachwuchsmangel“ nicht. Die französische Zeitung „Le Figaro“ verkündete kürzlich stolz: „Wir sind 62 Millionen Franzosen.“ Die französische Bevölkerung wächst, wäh- rend die deutsche schrumpft. Heute hat Frankreich die höchste Geburtenzahl in Europa, mit mehr Geburten im Jahr als Deutschland, das immerhin 82 Millionen Einwoh- ner zählt. Für diese Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung gibt es eine Vielzahl von Gründen, wovon die Bevölke- rungspolitik der jeweiligen Regierung sicher nur einer ist. Fest steht aber, dass eine aktive Bevölkerungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Unter- gang des nationalsozialistischen Regimes verpönt war. Ganz anders in Frankreich: Dort forderte Staatspräsident Charles de Gaulle von seinen Landsleuten 12 Millionen Babys – und das fanden die Franzosen gar nicht anstößig. Bevölkerungspolitik wollte keiner betreiben, zu stark roch das nach der Nazi-Zeit. Erst seit kurzem wird darüber lebhaft diskutiert, beispielsweise wird gefragt, ob die größere Geburtenfreudigkeit der französischen Frauen etwas mit den besseren Angeboten für die Kinderbetreu- ung im Nachbarland zu tun haben könnte. Diese neue Debatte hat vor allem handfeste materielle Gründe – Aus- löser war die Krise der Sozialsysteme. „Wobei die heutige Krise der Sozialsysteme mit demographischen Faktoren noch gar nichts zu tun hat“, erläutert Reiner Klingholz. „Das kommt erst noch, und zwar ab dem Jahr 2015, wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen.“ Die Debatte sei in den vergangenen Monaten entideolo­ gisiert worden. „Die Fragen der Ganztagsbetreuung in Kindergärten oder in Schulen werden plötzlich von allen anerkannt, und plötzlich geht‘s.“ (http://www.dw.com/de/bevölkerungspolitik-ist-in-deutsch- land-kein-tabu-mehr/a-1837474, Sebastian Herold, 2.1. 2006, abgerufen am 12.1. 2017) Maßnahmen gegen den Geburtenrückgang Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- land sind so wenige Kinder geboren worden wie im ver- gangenen Jahr. Was liegt da näher, als den Rotstift anzu- setzen und ein dickes Kreuz durch die Pläne für einen Ausbau der Kinderbetreuung zu machen? Wo kaum noch Kinder geboren werden, müssen künftig auch immer we- niger betreut werden. Familien- und bevölkerungspoliti- sche Maßnahmen, Elterngeld, Kindergeld, Krippenplätze? Wozu? Wer sich mit dem Bevölkerungsrückgang abfindet, wird sich auch mit den Sparvorschlägen des hessischen Ministerpräsidenten anfreunden können. Roland Koch wiederum, Jahrgang 1958, wird sich mit dem Gedanken an einen vergleichsweise bescheidenen Lebensabend an- freunden müssen, denn bei gleichbleibendem Bevölke- rungsrückgang, fortschreitender Überalterung der Gesellschaft und sinkender Wirtschaftskraft dürften die Altersbezüge der Babyboomer-Jahrgänge mager ausfal- len. Die Gründe für sinkende Geburtenzahlen sind in den vergangenen Jahren ebenso gründlich erforscht worden wie die Möglichkeiten der Bevölkerungspolitik ihnen ent- gegenzuwirken. (http://www.berliner-zeitung.de/massnahmen-ge- gen-den-geburtenrueckgang-deutschland-in-der-demogra- fiefalle-14612380, Katja Tichomirowa, 19. 5. 2010, abgerufen am 12.1. 2017) M1 Wieder aktive Bevölkerungspolitik in Deutschland M2 Deutschland in der Demographiefalle Mit Sicherheit mehr Kinder Ein beliebtes Argument: Eine flächendeckende Ganztags- betreuung erhöhe die Geburtenrate. Das ist ein Trug- schluss. Wichtiger sind sichere Jobs. (…) Und gerade diese Sicherheit ist besonders für Berufseinsteiger und Berufseinsteigerinnen immer weni- ger zu haben, wie schon die Schlagworte von der „Genera- tion Praktikum“ und der „Generation der befristeten Ar- beit“ signalisieren. Es sind die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, die in den populären Vergleichen mit dem familienpolitisch „fortschrittlichen“ Ausland wie Frank- reich oder Skandinavien oft übersehen werden. Im gern zitierten Schweden arbeiten beispielsweise rund 75 Prozent aller Frauen im öffentlichen Dienst. Dort gibt es verbindliche Tarifverträge, die meisten Festanstellungen, Urlaubsanspruch und oft die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit. Bei uns sind dagegen nur rund 16 Prozent der Frauen im öffentlichen Dienst beschäftigt. Die große Mehrheit muss sich auf dem Privatsektor einen Job suchen. Und hier ha- ben sich die Bedingungen vor allem seit der Jahrtausend- wende und schon vor der berüchtigten Agenda 2010 im- mer weiter verschärft. Die großzügige Ausweitung von gesetzlich erlaubter befristeter Beschäftigung und Leih­ arbeit trifft Berufseinsteiger ganz besonders. So hat sich von 2001 bis zum ersten Halbjahr 2009 der Anteil der Zeitverträge bei allen Neueinstellungen von 32 auf 47 Prozent erhöht. Hauptbetroffene sind junge Leute und Frauen. Besonders verbreitet sind die Arbeitsformen im boomenden Dienstleistungssektor: bei Leiharbeitsfir- men, dem Gesundheits- und Pflegebereich. Selbst vor dem öffentlichen Dienst macht der Trend nicht halt. Mittlerwei- le werden auch Erzieherinnen oder Lehrer zeitlich be- grenzt eingestellt. Sogar bei der Bundesagentur für Arbeit bangen Tausende Mitarbeiter um eine Vertragsverlänge- rung. (…) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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