107 Städte als Lebensräume und ökonomische Zentren untersuchen „Der beste Platz in Europa“ Alexey Reznikowitsch sitzt in seinem neuen Büro in Mayfair, dem bevorzugten Stadtteil für russische Geschäftsleute, ein großer Mann mit kahlem Kopf. Er ist vor zwei Jahren mit seiner Frau und fünf Kindern nach London gezogen. „London ist der beste Platz in Europa, allein wenn man nur das Kulturangebot betrachtet“, sagt er, Sohn eines Theaterdirektors. „Es ist eine wirklich internationale Megapolis. Und was die Geschäfte angeht, hier finden die wichtigen Deals statt.“ Was ihn aber vor allem angezogen habe, seien die Werte. Der Glaube, eine intakte Gesellschaft vorzufinden. Er sagt: „Die Transformation, die Russland in den letzten 20 Jahren durchgemacht hat, hat die Gesellschaft zerstört.“ In London braucht man keine Bodyguards für seine Kinder. Und sie lernen dort auch nicht Tag für Tag, dass Korruption offenbar etwas Normales ist. Reznikowitsch wohnt im königlichen Stadtteil Kensington und hat eine Firma mit 80 000 Mitarbeitern, Vimpelcom, sie ist der sechstgrößte Mobilfunkanbieter der Welt. Russische Medien schätzen sein Privatvermögen auf mehr als 200 Millionen Euro. Man sollte annehmen, dass dieser Mann keine Probleme hat, einen Tisch oder Tennisplatz zu reservieren. So ist es aber nicht. Wenn es im Drei-Sterne-Lokal „Gordon Ramsey“ keinen Platz mehr gibt, versucht Reznikowitsch es längst nicht mehr selbst. Das muss der Concierge richten. Der Concierge, das meint Service-Agenturen wie Quintessentially Lifestyle, die bis zu 30 000 Euro im Jahr dafür nehmen, superreichen Londonern jeden Tisch und jedes Ticket zu besorgen. Natürlich gibt es auch unzählige Angebote für die ganz essentiellen Dinge: die Kinder, die Bildung. Seine Kinder haben in Moskau und in London in einer Extraklasse gebüffelt, damit sie auf eine der Londoner Privatschulen durften. Sicherheitsräume. Helikopterflüge in die Uni. Privatjets mit jedem erdenklichen Schnickschnack. London steht nicht im Ruf, eine Stadt der Neider zu sein, ganz im Gegenteil. Aber es kann leicht so aussehen, als habe sich eine Elite einen Raum in der Stadt geschaffen, den die Wirklichkeit so schnell nicht mehr berührt. Eine Stadt in der Stadt, die nach ihren eigenen Gesetzen funktioniert. Eine perfekte Kommerzwelt, die langsam zu einem Problem wird, weil zu viele draußen vor dem Schaufenster stehen und bestenfalls noch zusehen dürfen. (https://www.welt.de/wirtschaft/article139036189/ London-die-haerteste-Stadt-Europas.html, Stefanie Bolzen ua, 5. 4. 2015, abgerufen am 6. 4. 2018) M3 London aus der Sicht eines reichen Stadtbewohners „Es ist nicht schön, wenn man sich anders fühlt“ Rayhana Khanon geht mit schnellen Schritten durch eine schmale Asphaltgasse. Sie ist spät dran an diesem Morgen. Die 17-Jährige macht eine Ausbildung zur Zahntechnikerin, den nächsten Bus in die Innenstadt muss sie unbedingt erwischen. Auf dem Bürgersteig vor Rayhanas Zuhause drängen sich die Passanten. One Commercial Street. Eine der besten neu gebauten Adressen in Londons Osten, zur City sind es nur ein paar Gehminuten. Eine Zweizimmerwohnung in dem 21-stöckigen Apartmentblock ist derzeit für 1,5 Millionen Euro im Angebot. In der Lobby viel Chrom und cremefarbener Marmor, die Rezeption ist rund um die Uhr besetzt. Nur hat Rayhana die Lobby noch nie von innen gesehen. Sie muss einen Seiteneingang benutzen. Die „poor door“, die Armentür, die der Bauherr für Leute wie sie eingerichtet hat. Er will sie eigentlich nicht als Mieter haben. Aber er muss. Die Stadt verpflichtet Immobilienfirmen ab einer gewissen Größe, auch Wohnraum für Sozialhilfeempfänger anzubieten. Für Menschen wie Rayhana Khanon, ihre Eltern, ihre fünf Geschwister, Zuwanderer aus Bangladesch. „Es ist nicht so schön, wenn man sich anders fühlt“, sagt Rayhana und senkt den Blick, während sie zur Haltestelle eilt. Die Hausverwaltung bietet den vermögenden Hausbewohnern rund um die Uhr jeden erdenklichen Service: Anzugreinigung, Catering oder den aktuellen Katalog aller Restaurants in London, die einen MichelinStern tragen. Wenn Rayhanas Familie etwas braucht, einen Ersatz für den tropfenden Wasserhahn oder das klemmende Fensterrollo, dann kann das dauern. Der Aufzug zum Beispiel ist oft kaputt. Nicht schön, wenn man wie sie im neunten Stock wohnt. Und letztens, sagt Rayhana, hatten wir tagelang nur kaltes Wasser. Aber was soll sie sagen? So ist es halt. Das ist London. Bunt, laut, groß. Und eine Stadt des Geldes. Das war London immer. Inzwischen ist die Mischung explosiv. Denn etwas ist aus dem Lot geraten. Plötzlich steht die Frage im Raum, wem London eigentlich gehört. (https://www.welt.de/wirtschaft/article139036189/ London-die-haerteste-Stadt-Europas.html, Stefanie Bolzen ua, 5. 4. 2015, abgerufen am 6. 4. 2018) M4 London aus der Sicht einer armen Stadtbewohnerin 1 Erläutern Sie anhand der beiden Texte M3 und M4, wie unterschiedlich das Leben in London für Menschen sein kann. 2 Interpretieren Sie das Zitat M2. Wird London eine Stadt der oberen Tausend? Schlagen Sie Maßnahmen vor, wie die Politik dem entgegenwirken könnte. 3 Äußern Sie Ihre eigene Meinung: Könnten Sie sich angesichts der steigenden Mietpreise und Lebenskosten ein Leben in einer Stadt wie London vorstellen? Was könnte Menschen trotz dieser Hindernisse dazu bewegen, sich diese Stadt als Lebensmittelpunkt auszusuchen? { } } Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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