Starke Seiten Deutsch 4, Schulbuch, aktualisierte Ausgabe

Von Liebe und Leid lesen: Einander beistehen Vernunft und Verzeihen hätten das tragische Ende Romeos und Julias vermieden. Aber nicht alles, was der Liebe im Weg steht, kann überwunden werden. Gegen eine schwere Krankheit zum Beispiel ist man bis heute machtlos. Ein Junge starrte mich an. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Er war groß und schlaksig, sodass der kleine weiße Plastikstuhl der Sonntagsschule wie ein Zwergenstühlchen unter ihm wirkte. Sein Haar war kastanienbraun, glatt und kurz. Er war vielleicht so alt wie ich oder ein Jahr älter und saß mit provozierend schlechter Haltung da, Hintern an der Stuhlkante, eine Hand in der Tasche seiner dunklen Jeans. Ich wandte den Blick ab, während mir mit einem Mal all meine tausend Schwächen bewusst wurden. Die alten Jeans, die ich trug, waren mal eng gewesen, aber jetzt flatterten sie an den falschen Stellen, und die Band auf meinem gelben T-Shirt fand ich schon lange nicht mehr gut. Und meine Haare: Ich hatte diesen Bubikopf, den man trägt, wenn man vorher eine Glatze hatte, und hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht, mich zu bürsten. Trotzdem – als ich mich wieder umsah, klebte sein Blick immer noch an mir. Zum ersten Mal verstand ich, warum es Augen kontakt hieß. Ich ging in den Kreis und setzte mich neben Isaac, zwei Plätze von dem neuen Jungen entfernt. Ich sah wieder in seine Richtung. Er beobachtete mich immer noch. Also, ich sage es ganz offen: Der Typ war echt süß. Wenn man von einem nicht- süßen Jungen angestarrt wird, ist es im besten Fall peinlich und im schlimmsten Fall eine Form von Belästigung. Aber bei einem süßen Typen … na ja. Ich kramte mein Telefon heraus und sah auf die Uhr. 16:59. Der Kreis füllte sich mit den unglücklichen Zwölf- bis Achtzehnjährigen, und dann stimmte uns Patrick mit dem Gelassenheitsgebet ein: Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Der Junge beobachtete mich immer noch. Ich war kurz davor, rot zu werden. Irgendwann beschloss ich, die richtige Strategie wäre zurückzustarren. Immerhin haben Jungs kein Monopol aufs Starren. Also sah ich ihn von oben bis unten an, und bald starrten der Junge und ich um die Wette. Nach einer Weile musste er grinsen, und dann endlich sah er mit seinen blauen Augen weg. Als er mich wieder ansah, zog ich die Brauen hoch, um ihm zu zeigen, dass ich gewonnen hatte. Er zuckte die Schultern. Patrick redete weiter, und irgendwann ging es mit dem Vorstellen los. Als er dran war, lächelte er ein bisschen. Seine Stimme war tief und rau und zum Umfallen sexy. „Ich heiße Augustus Waters“, sagte er. „Ich bin siebzehn. Vor anderthalb Jahren hatte ich den leichten Anflug eines Osteosarkoms, aber eigentlich bin ich heute nur hier, weil Isaac mich darum gebeten hat.“ „Und wie geht es dir heute?“, fragte Patrick. „Oh, mir geht es toll.“ Augustus Waters lächelte mit einem Mundwinkel. „Ich sitze in einer Achterbahn, auf der es immer nur aufwärts geht, mein Freund.“ Tipp Der Roman Das Schicksal ist ein mieser Verräter erzählt die berührende Liebes­ geschichte zweier schwerkranker Jugendlicher. Er stammt von John Green und wurde bereits verfilmt. Tipp Die krebskranke Hazel besucht widerwillig eine Selbsthilfe­ gruppe, in der Betroffene einander ermutigen. Stets dabei ist Patrick, der Leiter der Gruppe, und diesmal noch jemand … Tipp Ein Monopol zu haben bedeutet, das alleinige Recht auf etwas zu besitzen. Tipp Ein Osteosarkom ist eine Form von Knochenkrebs. 1 5 10 15 20 25 30 35 72 Respektvolles Miteinander Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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