Starke Seiten Deutsch 4, Schulbuch, aktualisierte Ausgabe

Texte verstehen: Wer will schon eine Rüsselnase? Mein Vater hat uns verlassen, als ich gerade in die erste Klasse gekommen war. Er ist Theaterdramaturg und hatte sich damals in eine junge Schauspielerin verliebt. Eine schöne, junge Schauspielerin. Mit ihr ist er nach England gezogen, in einen Vorort von London, und mit ihr hat er zwei neue Kinder. Bei Männern ist es wohl nicht so wichtig, wie sie aussehen. Und keines seiner neuen Kinder hat seine Nase geerbt. Oder sein Kinn. Nein, ich bin Alleinerbin. Als ich klein war, war ich einfach ich. „Meine schönen Töchter“, sagte meine Mutter manchmal. „Das sagen alle Mütter“, antwortete Hannah dann achselzuckend. „Aber bei mir stimmt es“, entgegnete meine Mutter und drückte uns an sich. Eigentlich waren es nur zwei Sätze, die alles für mich veränderten. Aber ich bin mir sicher, ich werde sie nie, nie, nie vergessen. Der erste Satz fiel letztes Jahr im Kunstunterricht. Wir hatten eine neue Lehrerin, und sie ließ uns Kohleskizzen machen. Einmal einen Stein, einmal einen zufälligen Schatten … und dann … unseren Sitznachbarn. Nur sein Profil, eine schnelle Skizze in wenigen Strichen. Und ich saß neben Henry. Wie benommen saß ich da. Ich wollte nicht gemalt werden. Um keinen Preis. Und schon gar nicht von Henry. Mein Kopf fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. lch wünschte mich weit weg, aber ich durfte nicht weg. Nein, ich musste hier sitzen und konnte es nicht glauben. Warum, warum, warum mussten wir so einen Blödsinn machen? Mathe war nötig, Fremdsprachen auch. Vielleicht war es auch notwendig, im Leben etwas von Goethe und Schiller und Peter Handke und Max Frisch gelesen zu haben. Und Hamlet. Aber es war nicht nötig, sich gegenseitig mit dünnen, bröckeligen Kohlestiften zu malen. Nein, das war ganz sicher nicht nötig. „Mann, deine komische Rüsselnase ist echt kompliziert zu malen“, murmelte Henry in diesem Moment. Mit gerunzelter Stirn saß er da, mit einem schwarzen Kohlefleck auf der Wange und zerstrubbelten Haaren, den Zeichenblock auf den Knien. Er schaute mich an. Ich fühlte nichts, gar nichts. Absolut gar nichts. „Ich … komme gleich wieder“, murmelte ich schließlich benommen, als ich mich endlich wieder rühren konnte, und schob mich vom Stuhl. Ich schwitzte und fror zur gleichen Zeit. Ich fühlte mich wie krank, wie erschlagen, wie in Trance. „Okay, bis gleich“, nickte Henry, der nichts bemerkte, und strichelte weiter auf seinem Block, an seiner Zeichnung, herum. Ich vermied es, sie auch nur mit einem Blick zu streifen. Stattdessen stolperte ich mit kleinen, leisen, unauffälligen Schritten mitten durch den lauten Kunstraum und floh, wie damals im Gruselkabinett, auf die Toilette. „Wo warst du denn so lange?“, fragte Henry in der nächsten Stunde. „Ich war … mir war … ist doch egal“, sagte ich und schaute ihn nicht an. Mein Gesicht war wie eine Wunde. Mein Gesicht war eine Wunde nach dieser Stunde im Kunstraum. Ich war nicht mehr ganz. Ich war verletzt. „Hab die Skizze trotzdem abgegeben“, sagte Henry achselzuckend. „War ja sowieso schon fast fertig. Deinen Block mit meinem Profil habe ich übrigens auch mit abgegeben.“ Tipp Das Buch Schön. Helenas größter Wunsch erzählt, wie ein Mädchen, das sich hässlich findet, allmählich lernt, sich anzunehmen. Das Buch stammt von Jana Frey , einer deutschen Jugendbuchautorin. Tipp In Deutschland heißt Bildnerische Erziehung Kunstunterricht . Tipp Das Profil ist die Seitenansicht des Kopfs. 1 5 10 15 20 25 30 35 40 45 60 Wa(h)re Schönheit Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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