Starke Seiten Deutsch 4, Schulbuch, aktualisierte Ausgabe

Texte deuten: Nur Fliegen ist schöner Als Johannes das Flughafengebäude verlässt, schlägt ihm der Wind von Nordosten her mit einer leichten Meersalzbrise ins Gesicht. Blinzelnd kann er die Startbahn null drei erkennen, und obwohl sie doch ein ganzes Stück weit entfernt liegt, kann er das Dröhnen der Motoren bis hierher hören. Er hebt die Hand zum Gesicht, um seine Augen vom gleißenden Licht der Sonne abzuschirmen, die langsam, aber sicher die Regenwolken immer mehr verdrängt. Er sieht, wie das erste Flugzeug, das an diesem Morgen den Flughafen verlässt, wie ein Pfeil an ihm vorbeizieht, die Wolken durchschneidet und schließlich hoch oben verschwindet. Während er das Schauspiel noch kurz auf sich wirken lässt, bebt der noch nasse Asphalt ein weiteres Mal und eine Maschine, voll besetzt mit Urlaubern, Geschäftsleuten und anderen Reiselustigen rollt donnernd über die Startbahn, bis auch sie abhebt und der Sonne entgegenschwebt. Wie ein Schleierstaub begleitet der Regen das Spektakel. Johannes atmet tief durch. Was für ein unbeschreibliches Gefühl es doch ist, über den Wolken zu sein, umgeben von grenzenloser Freiheit. Alle Ängste und alle Sorgen können in diesen Momenten am Boden bleiben und sich im Dunstnebel der Wolken verbergen. Dinge, die in einem Augenblick noch fürchterlich groß und besonders wichtig erscheinen, werden auch für Johannes, in der Sekunde, in der das Flugzeug vom Boden abhebt, nichtig und klein. Schon von Klein auf haben Flugzeuge auf Johannes diese besondere Wirkung. Er erinnert sich an die Momente im Garten, an denen das donnernde Grollen der Riesenmaschinen die Stille der Landschaft durchschnitt und alle Augen der Familie sich gegen Himmel richteten. Wie seine kleine Schwester vor Freude die Arme in die Luft riss und seine Mutter sehnsüchtig dem großen Vogel am Himmel mit einem faszinierten Staunen hinterherblickte. Johannes selbst verspürte in diesen Momenten immer eine Sehnsucht, die er nicht in Worte fassen konnte. Als die Jahre vergingen, verloren die Flugzeuge am Himmel für die Familie mehr und mehr an Erstaunlichem, aber nicht für Johannes. So steht er auch jetzt im letzten Regengrau, während seine Augen nach und nach jenen winzigen Punkt verlieren, der ein weit entferntes Ziel ansteuert. Nur von Fern klingt noch monoton das Summen der Motoren nach, bis auch dieses endgültig verstummt. Als plötzlich alles still ist, setzt Johannes in Gedanken versunken seinen Weg fort, während seine regennasse Jacke von der aufstrebenden Sonne erwärmt und getrocknet wird. Von irgendwoher dringt der leichte Geruch nach Kaffee in Johannes’ Richtung. In den letzten Pfützen des morgendlichen Schauers schwimmt Benzin, das, von der Sonne beleuchtet, wie ein Regenbogen schillert. „Na, wärst du gerne mitgeflogen?“, fragt eine Stimme in dieser Sekunde. Johannes wird aus seinen Gedanken gerissen und blickt seiner Kollegin in die Augen. Sie hält ihm einen Becher Kaffee hin, den er dankend annimmt. „Aufgeregt?“, will sie von ihm wissen. Johannes schüttelt den Kopf, bleibt ihr eine Antwort schuldig und nippt stattdessen an seinem Kaffeebecher. Daher also der Geruch von vorhin. Er dankt Yolanda, bevor sie gemeinsam die letzten Schritte gehen und die Gangway erklimmen. „Alles fertig vorbereitet?“, fragt Yolanda. Die Crew nickt. Yolanda lässt Johannes den Vortritt und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. Johannes betritt das Cockpit, setzt sich auf den Pilotensitz und wird innerlich ganz ruhig. Yolanda nimmt neben ihm Platz. Gemeinsam gehen sie noch einmal die Wetterbedingungen, die Route und die technischen Aspekte durch. Dann kontrollieren sie den Sprechfunk. Sein erstes Mal als Chefpilot, sein großer Tag. Johannes atmet tief durch. Dann begrüßt er die Passagiere: „Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kinder! Ich freue mich, Sie an Bord …“ Schon rollt er mit dem Flugzeug auf der Startbahn. Die Motoren donnern und die Maschine hebt, leicht wie ein Vogel, vom Boden ab. Patricia Bulling, nach: Reinhard Mey 1 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 52 Wa(h)re Schönheit Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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