Starke Seiten Deutsch 4, Schulbuch, aktualisierte Ausgabe

Texte untersuchen: Die Welt mit anderen Augen sehen Nicht nur in Gedichten wird die Welt verfremdet dargestellt. Im Roman „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ von Herbert Rosendorfer wird die Welt mit den Augen des Chinesen Kao-tai, der mit Hilfe eines Zeitreise­ kompasses vom 10. Jahrhundert in die Gegenwart gelangt, betrachtet. Aufgrund eines Rechenfehlers landet er allerdings nicht im modernen China, sondern in den 1980er Jahren in München, das er als Min-chen bezeichnet. Dort ist er mit dem Trubel und den Neuerungen der Zeit überfordert und stolpert von einem Abenteuer ins nächste. Lies folgenden Textausschnitt, in dem Kao-tai viele neue Eindrücke beschreibt. Was stürzt hier auf ihn zu, als er die Allee überqueren will? Die erwähnte Straße, die ich überqueren wollte, ist eine Allee. Nichtsahnend schickte ich mich an, diese Allee zu überqueren, als sich ein unvorstellbares Heulen, Knirschen und Rattern näherte, für das in unserer Welt jeder Vergleich fehlt. Gleichzeitig raste mit der Geschwindigkeit eines Blitzes ein großes Tier – oder ein feuriger Dämon, schoss es mir durch den Sinn – auf mich zu, ja: schneller als jeder Blitz, so ungeheuer schnell, dass ich das Tier oder Ding gar nicht sehen konnte. Inzwischen weiß ich ungefähr, was für Dinge das sind – es sind keine Dämonen, jedoch mindestens so gefährlich wie für abergläubische Leute Dämonen –, aber damals war ich natürlich noch völlig unvorbereitet. Ich hatte die Straße schon zur Hälfte überquert, als mich – so meinte ich – das schnaubende Tier erblickte. Alles spielte sich in Bruchteilen von Augenblicken ab. Ich erkannte, dass der Dämon es nicht auf mich abgesehen hatte. Wie ein in höchster Wut rasendes Wildschwein aber konnte das Tier (größer als zehn Wildschweine) seine Richtung nicht so schnell ändern. Noch immer heulend, dann einen Knall ausstoßend, den man nur erzeugen könnte, wenn man das gesamte kaiserliche Feuerwerksmagazin für das Neujahrsfest auf einmal anzündete, sprang der Dämon, schien es mir, auf einen Baum hinauf. Ich stürzte zu Boden und verlor die Besinnung. Als ich wieder erwachte, hatte sich eine noch größere Menge von Großnasen, von denen wieder einer aussah wie der andere, versammelt. Mich hatte man zwar auf eine Holzbank gelegt, die zwischen den Bäumen stand, kümmerte sich aber fast nicht um mich. Alles stand um den Baum herum, auf den der schnelle Dämon „Zehn Wild­ schweine“ hinaufgeklettert war. Nein: er war nicht hinaufgeklettert, sah ich, als ich mich ein wenig erhob, er hatte sich am Stamm festgebissen. Heute weiß ich: es war gar kein Dämon und auch kein drachengroßes Wildschwein. Herbert Rosendorfer Finde die Zeitmaschine, die sich von den anderen beiden unterscheidet. Das ist der Zeitreisekompass des Chinesen Kao-tai. 16 Tipp Herbert Rosendorfer (1934–2012) stammte aus Bozen und arbeitete als Staats­ anwalt und später als Richter. Neben seiner Arbeit war er als Schriftsteller tätig. Tipp Als Großnasen werden auch heute noch in Asien weiße Menschen bezeichnet, weil sie für asiatische Verhältnisse sehr große, markante Nasen haben. 1 5 10 15 20 17 Tipp Texte, die die Welt mit anderen Augen beschreiben, findest du auch auf den Seiten 116 bis 119 . 112 Kreative Schreibwerkstatt Nu zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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