86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 stellt Psychologie-Professorin Ulrike Cress, 53, Direktorin des Instituts, klar. „Sie haben bestimmte Eigenschaften, die das Denken beeinflussen. Wir analysieren, wie wir Medien besser nutzen, um Lernprozesse zu erleichtern. Und wie wir negative Effekte vermeiden, etwa – bezogen auf das Internet – die Überlastung des Gehirns durch zu viele Informationen.“ Arbeitsgruppenleiter Peter Gerjets hat zum Stichwort Überlastung ein Beispiel parat: „Lesen und Lernen im Internet ist anders als im Buch“, sagt der 54-Jährige. „Das liegt daran, dass digitale Texte andere Funktionalitäten enthalten als analoge, gedruckte Texte.“ Grundsätzlich gilt, dass Lesen, anders als Sehen und Sprechen, nicht biologisch angeboren ist, sondern erlernt wird. Das heißt, dass das Gehirn die breiten Lesestraßen, die Netzwerkverbindungen der Zellen, erst anlegt. Wobei ein Mensch beim Lesen Hochleistungen vollbringt: Das Gehirn muss blitzschnell Zusammenhänge bilden, unsinnige Wortbedeutungen unterdrücken und vieles mehr. In Versuchen ließen die Tübinger ihre Testpersonen Wikipedia-ähnliche Texte, die Links zum Weiterklicken enthielten, zum Lernen nutzen. Und im Vergleich dazu Texte ohne Verlinkungen. Das Ergebnis: Links bedeuten Ablenkung. „Schaut man auf das gleiche Wort, wenn es als Link markiert ist, wird die Pupille messbar größer, ein Indikator für kognitive Belastung.“ Das Gehirn springt an, und zwar das Arbeitsgedächtnis. Dabei werden offenbar Ressourcen benötigt, die auch zum Lernen wichtig sind. Das Lernergebnis kann sinken. […] Intensives Lesen wird plötzlich zum Stress Drastischer hört sich die Analyse von Maryanne Wolf an. Die Kognitions- und Literaturwissenschaftlerin aus Los Angeles hat sich voll aufs Thema Lesen spezialisiert. Genauer, auf Unterschiede zwischen Papier und Bildschirm. Sie greift Erfahrungen auf, die viele Menschen kennen: Wer regelmäßig über Stunden am Bildschirm liest, dem fällt es häufig schwerer als früher, lange Strecken auf Papier konzentriert zu meistern. Intensives Lesen wird plötzlich zum Stress. Buchautorin Wolf („Schnelles Lesen, langsames Lesen“) analysiert, dass man digital in der Regel über weite Teile hinweghuscht. Man klopft den Text auf Schlüsselwörter ab, überfliegt den Rest. Dieses oberflächliche Scannen sei auf Geschwindigkeit angelegt. Das tiefe Eintauchen ins Geschriebene dagegen werde eher vom Papier gefördert. Passend dazu können Forscher zeigen, dass lange Informationstexte aus Büchern und von Papier im Gehirn besser erinnert werden, als wenn sie aus dem Netz gefischt wurden. Wolf warnt, dass sich das Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohnheiten insgesamt daran gewöhnen könnte, flach und ungeduldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen so einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Ein Risiko auch fürs Mitdenken in der Politik, für Wahlen und Demokratie. Aber bewiesen, räumt Wolf ein, ist das noch nicht. „Neue Kompetenzen erlernen, andere verlieren“ In eine ähnlich mahnende Richtung zielt die „Stavanger-Erklärung“ von Anfang 2019. Maryanne Wolf hat sie unterzeichnet, genau wie Yvonne Kammerer vom Tübinger IWM. Darin fordern mehr als 130 Experten, das analoge Lesen weiterhin zu fördern. Parallel sollten Schüler und Studenten lernen, auch am Bildschirm verständnisorientiert zu lesen. Und sie appellieren: Forscht weiter zu diesen Themen! „Es gibt Hinweise, dass bei Zeitdruck das digitale Lesen von Sachtexten im Vergleich zum analogen nachteilig ist – ohne Zeitdruck nicht so“, sagt die 37-jährige Kammerer. „Ich glaube, wir sind an einem kritischen Punkt“, mahnt US-Autorin Wolf. Blindes Vertrauen in Technik sei ein Fehler. „Wir sollten beim Umschwenken zum digitalen Lesen nicht so schnell vorwärtsgehen wie bisher. Wir sollten uns Zeit nehmen, die Vorteile digitaler Medien zu erkunden, und schauen, wie wir die Nachteile umgehen.“ Der Braunschweiger Professor Martin Korte spricht ebenfalls von einem „Übergangszustand“. Als Pessimist mag der 54-jährige Neurobiologe nicht gelten. Handys und Tablets machten junge Menschen nicht per se dümmer als ihre Eltern – seien es die zweijährige Henriette oder heutige Teenager. Das Gehirn besitze eine alte Grundstruktur. „Wir haben kein Twitter-Gehirn, und wir haben auch kein Facebook-Gehirn. Wir haben die Gehirne von einer Horde von Steinzeitmenschen, die gewohnt sind, um eine Höhle herum zu leben“, sagt er. „Das wird sich sicher nicht so schnell ändern. Wir werden sicher bestimmte neue Techniken und Kompetenzen erlernen und dafür andere verlieren.“ QUELLE: https://www.welt.de/gesundheit/article196824853/Smartphone-Nutzung-veraendert-das-Gehirn.html; (abgerufen am 15.02.2022) 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 95 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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