sprachreif 3/4, Schülerbuch

sagte ich, „wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.“ Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen, da ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserm Fenster sang: „Bauer, miet mich, Bauer, miet mich!“ nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: „Bauer, behalt deinen Dienst!“ Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten stolz und zufrieden Adjes6 zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend: Wem Gott will rechte Gunst erweisen, Den schickt er in die weite Welt, Dem will er seine Wunder weisen In Berg und Wald und Strom und Feld. Die Trägen, die zu Hause liegen, Erquicket nicht das Morgenrot, Sie wissen nur vom Kinderwiegen, Von Sorgen, Last und Not um Brot. Die Bächlein von den Bergen springen, Die Lerchen schwirren hoch vor Lust, Was sollt ich nicht mit ihnen singen Aus voller Kehl und frischer Brust? Den lieben Gott lass ich nur walten; Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld Und Erd’ und Himmel will erhalten, Hat auch mein Sach’ aufs best bestellt! Indem, wie ich mich so umsehe, kömmt ein köstlicher Reisewagen ganz nahe an mich heran, der mochte wohl schon einige Zeit hinter mir drein gefahren sein, ohne dass ich es merkte, weil mein Herz so voller Klang war, denn es ging ganz langsam, und zwei vornehme Damen steckten die Köpfe aus dem Wagen und hörten mir zu. Die eine war besonders schön und jünger als die andere, aber eigentlich gefielen sie mir alle beide. Als ich nun aufhörte zu singen, ließ die ältere stillhalten und redete mich holdselig an: „Ei, lustiger Gesell, Er weiß ja recht hübsche Lieder zu singen.“ Ich nicht zu faul dagegen: „Euer Gnaden aufzuwarten, wüsst ich noch viel schönere.“ Darauf fragte sie mich wieder: „Wohin wandert Er denn schon so am frühen Morgen?“ Da schämte ich mich, dass ich das selber nicht wusste, und sagte dreist: „Nach Wien“; nun sprachen beide miteinander in einer fremden Sprache, die ich nicht verstand. Die jüngere schüttelte einige Male mit dem Kopfe, die andere lachte aber in einem fort und rief mir endlich zu: „Spring Er nur hinten mit auf, wir fahren auch nach Wien.“ Wer war froher als ich! Ich machte eine Reverenz und war mit einem Sprunge hinter dem Wagen, der Kutscher knallte, und wir flogen über die glänzende Straße fort, dass mir der Wind am Hute pfiff. […] 6 aus dem Frz.: endgültiges „Auf (Nichtmehr)Wiedersehen!“, wörtlich: „zu Gott (hin)“, steht im Gegensatz zu „Au revoir!“ (auf Wiedersehen) QUELLE: Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2017. A18 Lesen Sie den obenstehenden Beginn des 1. Kapitels von Aus dem Leben eines Taugenichts und notieren Sie handschriftlich Ihre Beobachtungen in Bezug auf Merkmale der romantischen Weltanschauung, die Sie in diesem Textausschnitt vorfinden. A19 Besprechen Sie Ihre Ergebnisse anschließend im Plenum. A20 Schreiben Sie eine Fortsetzung dieser Szene. Wie könnte es für den Taugenichts in Wien mit den beiden vornehmen Damen weitergehen? C 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 49 Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=