sprachreif 3/4, Schülerbuch

be immer wieder, dass Menschen glauben, die Grammatik sei genormt. Genormt ist im Deutschen aber nur die Rechtschreibung und das auch nur im amtlichen Bereich. Privat könnte jeder schreiben, wie er wollte. Das wird natürlich nicht gemacht. Die dritte Frage ist die des Gebrauchs: Der Gebrauch der Sprache ändert sich einfach viel schneller als die Grammatik. Das Gendern ist eine Frage des Gebrauchs und nicht der Grammatik. Wenn jemand sagt, er verstehe unter Mieter auch eine Frau und der andere sagt, er verstehe unter Mieter keine Frau, dann gibt es da keine Lösung, zumindest nicht auf grammatischer bzw. sprachwissenschaftlicher Ebene. Wir erleben derzeit eine pragmatische Wende mit, das ist ja sehr aufregend. Wir erleben mit, dass „die Ärzte“ nicht mehr als feminine Form akzeptiert wird oder eher bei Älteren. Jüngere sind geneigt, unter „die Ärzte“ nur Männer zu verstehen. Bei „der Arzt“ ist das noch krasser, man kommt immer mehr davon ab, darunter eine Frau zu verstehen. Dem trägt auch der Online-Duden Rechnung. Er differenziert jetzt genau. Natürlich hat es gleich einen Shitstorm gegeben von Leuten, die behauptet haben, das würde nicht gehen, aber ohne jegliche Begründung. Es gibt außerdem einen weiteren Punkt, der wichtig ist, nämlich die Emotionen. Gerade Sprache ist in vielen Bereichen sehr emotional und emotiv. Auch bei der Rechtschreibreform wurde oft mit „Ich will das nicht!“, „Das gefällt mir nicht!“ reagiert und beim Gendern ist das genauso. Da steht oft die Angst dahinter, dass man die eigenen Gewohnheiten ändern soll. Die Behauptung, Gendern würde die Sprache unrichtig machen, ist also nicht haltbar? Das ist deshalb nicht richtig, weil es keine Norm gibt, und wo es keine Norm gibt, kann man auch nichts falsch machen. Wichtig ist die Kommunikation. Der Duden geht zum Beispiel vom Gebrauch aus und reagiert auch darauf. Auch eine Frage des Gebrauchs ist zum Beispiel, dass wohl in der Schweiz „die Gästin“ ein durchaus üblicher Begriff ist. Ich kannte das bislang nur als Scherzbildung, aber dort gibt es das wirklich. Einigen wir uns darauf oder nicht? Das ist die Frage. Finden Sie es in der heutigen Zeit wichtig, dass im öffentlichen Rundfunk gegendert wird? Ich halte für relevant, was die Betroffenen wollen. Bei der Kommunikation geht es nicht nur darum, was „Ich“ will, sondern darum, was das Gegenüber hören will. Es verlangt die Höflichkeit, dass ich mich da an Wünsche halte. So sehe ich das auch beim Gendern. Wenn sich Frauen von „die Ärzte“ nicht angesprochen fühlen, dann bin ich für das Gendern. Ich möchte ja auch nicht als Professorin angesprochen werden. Luise F. Pusch fordert in ihrem Buch eine Reform für die deutsche „Männersprache“, damit sie zur Humansprache wird. Was kann man sich darunter vorstellen? Es gibt keine befriedigende Lösung. Es ist egal, ob man jetzt ein Binnen-I, Sternchen oder Doppelpunkt verwendet, es werden nie alle damit zufrieden sein und es gibt immer Argumente dafür und dagegen. Beim Binnen-I wird immer kritisiert, dass man das nicht aussprechen kann, dafür gibt es einen Glottisschlag. Dann sagen wieder viele, in der Wortmitte kann es keinen Glottisschlag geben. Bei Sternchen oder Doppelpunkt könnte man argumentieren, dass es sich dabei nicht um Buchstaben handle. Kein Vorschlag ist besser als der andere, alle sind gleichwertig. Die Hoffnung, man erfindet ein Sprachsystem, das dann alle Probleme löst − ich fürchte, das gibt es nicht. Zusätzlich gibt es jetzt auch noch „divers“. Das verkompliziert das System weiter. Ich kann aber nicht prophezeien, was sich durchsetzen wird. Denken Sie, das Thema Gendern wird weiterhin ein wichtiges öffentliches Thema bleiben? Ja. Die jüngere Generation hat da ja einen anderen Standpunkt dazu. Es wird sicher auch das Thema „divers“ eine stärkere Rolle spielen. Ich glaube, die Zeiten sind vorbei, in denen unter „der Arzt“ auch eine „Ärztin“ verstanden wird. QUELLE: Interview, geführt von Hörbinger, Katrin; gehalten am 09.12.2022 via Zoom A40 Überlegen Sie zu zweit, wie Sie heute dem Gebrauch des generischen Maskulinums gegenüberstehen und sammeln Sie gute Argumente, die Ihren Standpunkt untermauern. A41 Tüfteln Sie mit der Sprache: Überlegen Sie sich eine Gender-Form, mündlich wie schriftlich, durch welche auch die Kategorie „divers“ Ausdruck findet. B 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 229 Sprachreflexion Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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