Aufwendig und notwendig − Die Theorie von der Humansprache A8 Lesen Sie die Auszüge aus Das Deutsche als Männersprache, einem Buch der Linguistin Luise F. Pusch, das erstmals 1984 erschienen ist. Die aufgeworfenen Fragen sind mittlerweile über 40 Jahre alt, trotzdem scheint es noch notwendig, sie zu diskutieren. Bilden Sie Gruppen und bearbeiten Sie die im Text genannten Fragen, indem Sie versuchen, Antworten auf die Problemstellungen zu geben. Luise F. Pusch: Das Deutsche als Männersprache In meinem Pass steht: „Der Inhaber dieses Passes ist Deutscher.“ Ich bin aber kein Deutscher. Hätte ich je in einem Deutschaufsatz geschrieben, ich sei „Deutscher“, so wäre mir das Maskulinum als Grammatikfehler angestrichen worden. Ich bin Deutsche. Es müsste also heißen: „Der Inhaber dieses Passes ist Deutsche.“ Nein, das ist auch falsch. Zwar gilt es nicht als Fehler, wenn ich, obwohl weiblich, über mich sage: „Ich bin Inhaber dieses Passes.“ Genauso korrekt ist aber Inhaberin. Und zusammen mit Deutsche ist nur Inhaberin richtig: „Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche.“ Im Pass meines Bruders steht derselbe Satz wie in meinem. Er hat sich nie daran gestört. Wieso sollte er auch? Der Satz ist ihm auf den Leib geschneidert. Aber wenn da stünde „Die Inhaberin dieses Passes ist Deutsche“, so wäre das nicht nur falsch, sondern eine Katastrophe. Die Passbehörden würden sich vor Männerbeschwerden kaum retten können, denn welcher Mann lässt sich schon gern „Inhaberin“ und „Deutsche“ schimpfen? Weibliche Bezeichnungen sind für Männer genauso untragbar wie weibliche Kleidungsstücke. […] Ich bin Linguistin. Oder bin ich Linguist? Mal bin ich dies, mal jenes; ich habe mich längst daran gewöhnt. Eins aber steht fest: Meine Mutter war Sekretärin und nicht Sekretär. Sie hat den Sekretärinnenberuf ausgeübt und führt jetzt ein Rentnerdasein. Oder ist es ein Rentnerinnendasein? […] Ich stelle fest: Meine Muttersprache ist für Männer bequem, klar und eindeutig. Das Reden über Männer ist völlig problemlos in dieser Männersprache. Schwierig, kompliziert und verwirrend ist nur das Reden über Frauen. […] Als Frau und Linguistin interessieren mich nun folgende Fragen: 1. Wie kommt es, dass die deutsche Sprache so ist? War sie schon immer so? Welche Personen/Personenkreise/gesellschaftlichen Strömungen/geschichtlichen Ereignisse/didaktischen Maßnahmen/sprachregelnde Verordnungen usw. sind möglicherweise für ihren heutigen Zustand verantwortlich? 2. Sind andere Sprachen auch so? 3. Wieso sind weibliche Bezeichnungen für Männer untragbar, männliche Bezeichnungen für Frauen jedoch nicht? 4. Welche anderen Bereiche der Sprache – außer den Personenbezeichnungen – sind noch männlich geprägt? 5. Welche psychischen, kognitiven, gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen hat es für uns Frauen, dass unsere Muttersprache eine Vatersprache ist? 6. Welche psychischen, kognitiven, gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen hat es für Männer, dass ihre Muttersprache eine Vatersprache ist? 7. Warum beschweren sich nicht mehr Frauen über die Frauenfeindlichkeit der deutschen Sprache? Warum gab es früher keine Diskussion über diesen Skandal? 8. Was können wir tun? Wie können wir aus Männersprachen humane Sprachen machen? […] Die Linguistik, wie ich sie gelernt hatte, interessiert sich zwar dafür, was Ausdrücke bedeuten, aber nicht dafür, was es für Menschen subjektiv und objektiv bedeutet, dass Ausdrücke gerade das bedeuten, was sie bedeuten. Die herkömmliche Linguistik kritisiert Sprache nicht, sie beschreibt sie. […] Die Linguistik erlegt sich diese Selbstbeschränkung vermutlich deswegen auf, weil sie etwas vom Glanz der Naturwissenschaften erben möchte. Die Naturwissenschaften beschränken sich bekanntlich auf beschreibendes Erklären ihrer Gegenstände, da Kritik sinnlos ist. Sprache ist aber kein Natur-, sondern ein historisch-gesellschaftliches Phänomen und als solches auch kritisier- und veränderbar. Nach Auffassung von Feministinnen nicht nur kritisierbar, sondern extrem kritikbedürftig – und reformbedürftig. […] QUELLE: Pusch, Luise F.: Das deutsche als Männersprache. suhrkamp taschenbuch 1915, 2. Aufl. 2017. S. 7-10. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 212 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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