Peter Handke: Wunschloses Unglück (1972, Auszug) Unter der Rubrik VERMISCHTES stand in der Sonntagsausgabe der Kärntner „Volkszeitung“ folgendes: „In der Nacht zum Samstag verübte eine 51jährige Hausfrau aus A. (Gemeinde G.) Selbstmord durch Einnehmen einer Überdosis von Schlaftabletten.“ Es ist inzwischen fast sieben Wochen her, seit meine Mutter tot ist, und ich möchte mich an die Arbeit machen, bevor das Bedürfnis, über sie zu schreiben, das bei der Beerdigung so stark war, sich in die stumpfsinnige Sprachlosigkeit zurückverwandelt, mit der ich auf die Nachricht von dem Selbstmord reagierte. Ja, an die Arbeit machen: denn das Bedürfnis, etwas über meine Mutter zu schreiben, so unvermittelt es sich auch manchmal noch einstellt, ist andrerseits wieder so unbestimmt, daß eine Arbeitsanstrengung nötig sein wird, damit ich nicht einfach, wie es mir gerade entsprechen würde, mit der Schreibmaschine immer den gleichen Buchstaben auf das Papier klopfe. Eine solche Bewegungstherapie allein würde mir nicht nützen, sie würde mich nur noch passiver und apathischer machen. Ebensogut könnte ich wegfahren − unterwegs, auf einer Reise, würde mir mein kopfloses Dösen und Herumlungern außerdem weniger auf die Nerven gehen. […] QUELLE: Peter Handke : Wunschloses Unglück; Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2001. (Original-Rechtschreibung) A36 Lesen Sie das sehr bekannte Gedicht Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann. Markieren und benennen Sie verwendete rhetorische Stilmittel und identifizieren Sie das Hauptthema. Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit (1953) Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Bald musst du den Schuh schnüren und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. Denn die Eingeweide der Fische sind kalt geworden im Wind. Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. Dein Blick spurt im Nebel: die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont. Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, er steigt um ihr wehendes Haar, er fällt ihr ins Wort, er befiehlt ihr zu schweigen, er findet sie sterblich und willig dem Abschied nach jeder Umarmung. Sieh dich nicht um. Schnür deinen Schuh. Jag die Hunde zurück. Wirf die Fische ins Meer. Lösch die Lupinen! Es kommen härtere Tage. QUELLE: Ingeborg Bachmann: Sämtliche Gedichte. München/Berlin: Piper 2009. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 200 7 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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