der Meersprache ist ein ungezogenes Kind tatsächlich ein Möbel: „Du bisch es Möbu!“ wurden wir beschimpft. Ich verstand damals nicht, dass es ein Synonym für „Schlingel“ ist. Ich habe an die Sprache geglaubt, ich habe ihr geglaubt. Ich vermute, Meer war als Kind ein ähnliches Möbel für ich. Sie erzählte mir, dass ihr ununterbrochen gesagt wurde, dass sie ein Mädchen sei. Dass sie in der Schule nicht gefördert wurde, weil sie ein Mädchen war, dass sie angefasst wurde, weil sie ein Mädchen war, dass von ihr erwartet wurde, dass sie schweigt oder leise spricht und Röckchen trägt und Kinder gebiert. Ich vermute, dass Meer sich schon ziemlich früh umgebaut hat, dass sie sich zu einem Archiv gezimmert hat für alle Frauen, die Gewalt erfuhren. Sie hat die Geschichten und Gefühle gesammelt und in sich aufbewahrt, so viele, dass ihre eigene Geschichte keinen Platz mehr in ihr hatte. Kann sein, dass ich so geil darauf bin, fremdes Material in mir aufzunehmen, weil ich es immer schon geübt habe. Kann sein, dass ich schon in meiner Kindheit trainiert habe, mir möglichst viel, möglichst Fremdes einzuverleiben. Es bereitet mir auf jeden Fall die grösste vorstellbare Lust, als reine Abladestation benutzt zu werden. Ich liebe die Erniedrigung, ich werde so richtig feucht, wenn man mich wie die billigste Nutte behandelt. Und noch viel mehr geilt es mich auf, wenn ich sehe, wie sehr man mich erniedrigen muss, wie sehr ich in meiner physischen Machtlosigkeit die gesamte physische Kontrolle über ihre Geilheit habe. Nichts macht mich williger, als zu spüren, wie sehr sie von meiner slutiness abhängig sind, um ihre Schwänze hochzukriegen. Sie sagen: ICH BESORGE ES DIR, aber in Tat und Wahrheit besorge ich es ihnen; ich besorge ihnen einen Körper, an dem sie sich ihre Männlichkeit besorgen können. Und nichts geilt sie mehr auf als ihre eigene Männlichkeit. Ich schenke ihnen während unseres Zusammenstosses das wichtigste Attribut ihres Geschlechts: die Macht über Anderes. 2 Schweizer Diminutiv QUELLE: de l’Horizon, Kim: Blutbuch. Fünfte Auflage 2022. Köln: DuMont Buchverlag, 2022, S. 49. (Original-Rechtschreibung) 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Grossmeers Baum In unserem Garten gab es viele Bäume. An die Bäume kann ich mich am besten erinnern, und der Baum, an den ich mich am allerbesten erinnern kann, ist die Blutbuche. Sie war gross und hatte einige tiefliegende Äste, sodass mensch ihr gut ins Geäst steigen konnte. Ich fühlte mich ihr verbundener als den Menschen. Sie hatte etwas Monströses, Zwitterhaftes: Sie war eine Mischung aus einem Tier und einem Baum. Sie war ein Dazwischen, sie trank Blut. Das Kind sprach mit der Blutbuche. Es sass unter ihrem roten Laub wie unter einer zweiten richtigen Haut. Wenn die Sonne hineinschien, war das Laub eine Haut von innen. Das Kind bat um Lektionen. Die Blutbuche wusste so deutlich, wie das Existieren geht, wie eine eigene Gestalt zu finden, ein Körper auszufüllen ist. Wie mensch sich nicht vertreiben lässt aus seiner Haut. […] QUELLE: de l’Horizon, Kim: Blutbuch. Fünfte Auflage 2022. Köln: DuMont Buchverlag, 2022, S. 56. (Original-Rechtschreibung) A1 Finden Sie zu zweit neue Formen der geschlechtergerechten Sprache, die Kim de l’Horizon verwendet. Lesen Sie dazu ebenso den Umschlagtext. A2 Besprechen Sie im Plenum, inwiefern die Nicht-Binärität der Schriftstellerperson sich in der Erzählfigur widerspiegeln könnte. A3 Hören Sie den Beitrag über Sensitivity Reading. Diskutieren Sie nach der Lektüre von Blutbuch, inwiefern Sensitivity Reading notwendig sein kann. A4 Teresa Reichl beschäftigt sich in ihrer literaturwissenschaftlichen Streitschrift Muss ich das gelesen haben? mit der Literatur, die im Schulunterricht teilweise nicht thematisiert wird. Nehmen Sie dazu Stellung, weshalb Blutbuch im Unterricht (nicht) behandelt werden sollte. Gehen Sie dabei auf folgende Aspekte ein: 1. Inhalt des Romans, 2. Autorenperson als nichtbinäre Person, 3. Aktualität, 4. Vergleich zu anderen, im Unterricht behandelten Werken. B C Ó q7v2xb Ó q7za4h 2 4 6 8 10 12 14 16 183 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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