sprachreif 3/4, Schülerbuch

Neue Formen der Epik Kim de l’Horizon: Blutbuch Als erstes Werk einer nonbinären Person wurde Blutbuch von Kim de l’Horizon (geboren am 9. Mai 1992 in Ostermundigen bei Bern, Schweiz) 2022 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Im selben Jahr gewann die Schriftstellerpersönlichkeit auch den Schweizer Buchpreis. Bei der Buchpreisverleihung in Frankfurt am Main sang de l’Horizon als Liebeserklärung an seine Mutter a cappella ein Lied und rasierte sich aus Solidarität mit den Frauen im Iran (in Bezugnahme auf die Proteste gegen das Regime, die seit September 2022 stattfinden) live mit einem Nassrasierer den Kopf, dabei wurden die Worte: „Dieser Preis ist nicht nur für mich“ ausgesprochen. Inhalt Erinnerungen an die Kindheit der im Mittelpunkt stehenden, nicht-binären Erzählfigur, die sich weder als Frau noch als Mann identifiziert, wechseln sich ab mit (teilweise auf Englisch verfassten) Passagen, die bei Recherchen im Haus der „Grossmeer1“genannten, an Demenz erkrankten Großmutter gefunden wurden. Ebenso werden Erinnerungen an den Großvater, genannt „Grosspeer“, verflochten mit Auseinandersetzungen mit der Mutter („Meer“) sowie mit der eigenen Sexualität und dem ausschweifenden Ausleben ebendieser. 1 Im Schweizer Hochdeutsch schreibt man kein „ß“. Textauszüge aus Blutbuch (2022) TIPP Im Umschlagtext von Blutbuch heißt es: „Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debut „Blutbuch“ versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Ein Auszug dieses Romans gewann den OpenNet-Wettbewerb der Solothurner Literaturtage. Heute hat Kim aber genug vom „ICH“, studiert Hexerei bei Starkhaw, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM.“ […] QUELLE: de l’Horizon, Kim: Blutbuch. Fünfte Auflage 2022. Köln: DuMont Buchverlag, 2022 Mein Körper: euer Körper Wenn es ein Gefühl aus meiner Kindheit gibt, das ich noch genau kenne, dann ist es das Gefühl, dass mein Körper nicht mir gehört. Dass er für andere, für anderes da ist und nicht für mich, um darin zu sein. Ich war immer so ein Möbel, ein Kommödli2 für Ausrangiertes. Ich weiss nicht, wie, aber die Erwachsenen haben ihre Dinge, Themen, Probleme in mir deponiert: das Fühlen, das unerwünscht war, die Ängste, das Mannsein, das Frausein, die Wunden. Kann sein, dass diese Dinge auch einfach so herr*innenlos herumlagen, dass ich sie eingesammelt habe, dass ich sie selbst in mich hineingestellt habe. Kann sein, dass mir niemensch befohlen hat, dieses Erbe anzunehmen, kann sein. Nichtsdestotrotz wusste ich, dass es sich nicht gehört, dass diese Gefühle so ohne Körper im Raum stehen. Ich hatte immer ein extrem genaues Wissen, was sich gehört und was nicht, ohne dass mensch es mir sagen musste, und ich hatte immer eine unmenschliche Scham, wenn jemensch etwas tat, das sich nicht gehörte. Dass ich ein Möbel war, wurde mir auch gesagt. In 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 182 Sonderseiten Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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