A29 Lesen Sie den zweiten Auszug aus Die Welt von Gestern von Stefan Zweig. Vergleichen Sie Inhalt und Sprache des ersten und zweiten Auszuges und wählen Sie eine geeignete Präsentationsform. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern (1942 posthum) … zum ersten Mal sah ich einer Hungersnot in die gelben und gefährlichen Augen. Das Brot krümelte sich schwarz und schmeckte nach Pech und Leim, Kaffee war ein Absud von gebrannter Gerste, Bier ein gelbes Wasser, Schokolade gefärbter Sand, die Kartoffeln erfroren; die meisten zogen sich, um den Geschmack von Fleisch nicht ganz zu vergessen, Kaninchen auf, in unserem Garten schoss ein junger Bursche Eichhörnchen als Sonntagsspeise ab, und wohlgenährte Hunde oder Katzen kamen nur selten von längeren Spaziergängen zurück. Was an Stoffen angeboten wurde, war in Wahrheit präpariertes Papier, Ersatz eines Ersatzes; die Männer schlichen fast ausschließlich in alten, sogar russischen Uniformen herum, die sie aus einem Depot oder einem Krankenhaus geholt hatten und in denen schon mehrere Menschen gestorben waren; Hosen, aus alten Säcken gefertigt, waren nicht selten. Jeder Schritt durch die Straßen, wo die Auslagen wie ausgeraubt standen, der Mörtel wie Grind von den verfallenen Häusern herabkrümelte und die Menschen, sichtlich unterernährt, sich nur mühsam zur Arbeit schleppten, machte einem die Seele verstört. Besser stand es am flachen Lande mit der Ernährung; bei dem allgemeinen Niederbruch der Moral dachte kein Bauer daran, seine Butter, seine Eier, seine Milch zu den gesetzlich festgelegten „Höchstpreisen“ abzugeben. Er hielt, was er konnte, in seinen Speichern versteckt und wartete, bis Käufer mit besserem Angebot zu ihm ins Haus kamen. Bald entstand ein neuer Beruf, das sogenannte „Hamstern“. Beschäftigungslose Männer nahmen ein oder zwei Rucksäcke und wanderten von Bauer zu Bauer, fuhren sogar mit der Bahn an besonders ergiebige Plätze, um illegal Lebensmittel aufzutreiben, die sie dann in der Stadt zum vierfachen und fünffachen Preise verhökerten. Erst waren die Bauern glücklich über das viele Papiergeld, das ihnen für ihre Eier und ihre Butter ins Haus regnete, und das sie ihrerseits „hamsterten“. Sobald sie aber mit ihren vollgestopften Brieftaschen in die Stadt kamen, um dort Waren einzukaufen, entdeckten sie zu ihrer Erbitterung, dass, während sie für ihre Lebensmittel nur das Fünffache verlangt hatten, die Sense, der Hammer, der Kessel, den sie kaufen wollten, unterdes um das Zwanzigfache oder Fünfzigfache im Preise gestiegen war. QUELLE: Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt am Main: Fischer 1993. (Rechtschreibung adaptiert) A30 Bilden Sie Lesekreise und sprechen Sie über Werke zum Thema Krieg. C TIPP: VOR DER MORGENRÖTE Der österreichische Film Vor der Morgenröte behandelt die Jahre des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig im (südamerikanischen) Exil. Die Hauptrolle spielt Josef Hader (s. sprachreif 2, S. 76). 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 TIPP: IN EINEM LESEKREIS DISKUTIEREN Ein Lesekreis besteht aus vier bis sechs Personen, die ein literarisches Werk innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne lesen und dann in Diskussionsform im Wesentlichen folgende Fragen erörtern: • Welche Erwartungen an den Text wurden (nicht) erfüllt? • Wie wirkt der Text auf mich und wie könnte der Text auf Menschen in der damaligen Zeit gewirkt haben? • Gibt es eine zentrale Problemstellung/einen zentralen Konflikt? • Welche Bedeutung hat dieser Konflikt für die Leserin/den Leser? • Wie ist das Verhalten/das Handeln der/des Protagonisten zu beurteilen? • Welche Schlüsse können daraus gezogen werden in Bezug auf die Bedeutung des Werks? 173 Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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