Abc-Schützen einer in einer benachbarten Straße gelegenen Schule Jahre hindurch empfanden. Unzählige Raufereien fanden statt, bei denen es manches Loch in den Köpfen der Knirpse absetzte. Wer möchte zweifeln, dass Blutrache und Duellwesen diesem Gefühl entstammen? Ich meine sogar, dass die bei uns so sorgfältig gepflegte Ehre von ihm ihre Hauptnahrung erhält. Die neueren staatlichen Organisationen haben begreiflicherweise die Äußerungen der primitiven virilen Eigenart stark in den Hintergrund drängen müssen. Aber wo zwei Staatengebilde nebeneinander liegen, die nicht einer übermächtigen Organisation angehören, schafft jenes Gefühl von Zeit zu Zeit in den Gemütern jene ungeheure Spannung, die zu den Kriegskatastrophen führt. Dabei halte ich die sogenannten Ziele und Ursachen der Kriege für ziemlich belanglos; sie finden sich stets, wenn die Leidenschaft ihrer bedarf. Die feinen Geister aller Zeiten waren darüber einig, dass der Krieg zu den ärgsten Feinden der menschlichen Entwicklung gehört, dass alles zu seiner Verhütung getan werden müsse. Ich bin auch trotz der unsagbar traurigen Verhältnisse der Gegenwart der Überzeugung, dass eine staatliche Organisation in Europa, welche europäische Kriege ebenso ausschließen wird wie jetzt das Deutsche Reich einen Krieg zwischen Bayern und Württemberg, in nicht allzu ferner Zeit sich erreichen lassen wird. Kein Freund der geistigen Entwicklung sollte es versäumen, für dieses wichtigste politische Ziel der Gegenwart einzustehen. Man kann sich die Frage vorlegen: Wieso verliert der Mensch in Friedenszeiten, während welcher die staatliche Gemeinschaft fast jede Äußerung viriler Rauflust unterdrückt, nicht die Eigenschaften und Triebfedern, welche ihn während des Krieges zum Massenmord befähigen? Damit scheint es sich mir so zu verhalten. Wenn ich in ein gutes normales Bürgergemüt hineinsehe, erblicke ich einen mäßig erhellten, gemütlichen Raum. In einer Ecke desselben steht ein wohlgepflegter Schrein, auf den der Hausherr sehr stolz ist und auf den jeder Beschauer sogleich mit lauter Stimme hingewiesen wird; darauf steht mit großen Lettern das Wort „Patriotismus“ geschrieben. Diesen Schrank zu öffnen ist aber für gewöhnlich verpönt. Ja der Hausherr weiß kaum oder gar nicht, dass sein Schrank die moralischen Requisiten des tierischen Hasses und Massenmordes birgt, die er dann im Kriegsfalle gehorsam herausnimmt, um sich ihrer zu bedienen. Diesen Schrein, lieber Leser, findest Du in meinem Stübchen nicht, und ich wäre glücklich, wenn Du Dich der Ansicht zuwenden möchtest, dass in jene Ecke Deines Stübchens ein Klavier oder ein kleiner Bücherkasten besser hineinpasste als jenes Möbel, das Du nur darum erträglich findest, weil Du von Jugend an daran gewöhnt worden bist. – Es liegt mir ferne, aus meiner internationalen Gesinnung ein Geheimnis zu machen. Wie nahe mir ein Mensch oder eine menschliche Organisation steht, hängt nur davon ab, wie ich deren Wollen und Können beurteile. Der Staat, dem ich als Bürger angehöre, spielt in meinem Gemütsleben nicht die geringste Rolle; ich betrachte die Zugehörigkeit zu einem Staate als eine geschäftliche Angelegenheit, wie etwa die Beziehung zu einer Lebensversicherung. Wie soll aber das ohnmächtige Einzelgeschöpf zur Erreichung dieses Zieles beitragen? Soll etwa jeder einen beträchtlichen Teil seiner Kräfte der Politik widmen? Ich denke wirklich, dass die geistig reiferen Menschen Europas sich durch Vernachlässigung der allgemeinen politischen Fragen versündigt haben; aber ich sehe in der Pflege der Politik nicht die wichtigste Wirksamkeit des Einzelnen in dieser Angelegenheit. Ich glaube vielmehr, jeder Einzelne sollte in dem Sinne persönlich wirken, dass jene Gefühle, von denen ich vorhin sprach, nach Möglichkeit in solche Bahnen gelenkt werden, dass sie nicht mehr der Allgemeinheit zum Fluche gereichen können. Jeder Mensch sollte sich ohne Rücksicht auf Worte und Taten anderer im Vollbesitz seiner Ehre fühlen, wenn er das Bewusstsein hat, nach bestem Wissen und Können zu handeln; Verletzung der Ehre, sei es der eigenen Person, sei es einer Gesamtheit, der man angehört, durch Worte und Taten anderer bzw. anderer Gesamtheiten gibt es nicht. Macht und Habgier sollen wie in früheren Zeiten als verächtliche Laster behandelt werden, ebenso der Hass und die Streitsucht. Sowenig ich an der Überschätzung des Vergangenen leide, in diesem wichtigen Punkte sind wir leider nach meiner Ansicht nicht vorwärtsgekommen, sondern zurückgesunken. Jeder Wohlwollende sollte daran arbeiten, dass bei ihm selbst und in seiner persönlichen Umgebung in dieser Beziehung gebessert werde. Dann werden auch die schweren Plagen verschwinden, wie sie uns heute in so furchtbarer Weise heimsuchen. QUELLE: http://www.zeit.de/2014/10/albert-einstein-meine-meinung-ueber-den-krieg; (abgerufen am 29.03.2016) 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 163 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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