nig geworden. Doch wer darf sagen: schlimmer kanns nicht werden? Der Optimist: Ja, es ist nicht zu leugnen, der Krieg greift in die Lebensverh ltnisse eines jeden ein. Wie lange, glauben Sie, wird es noch dauern? Der Nörgler: Wir werden jedenfalls bis zum letzten Hauch von Mann und Ross l gen. Ob auch k mpfen, ist eine andere Frage. Es scheint, dass wir dem deutschen Druck durch etwas Nibelungenuntreue entweichen wollen. Wir werden uns an Deutschland daf r, dass es uns nicht verhindert hat, es in den Krieg zu treiben, durch ein bisserl Verrat r - chen. Wer w rde aber nicht jede Schmach des Vaterlands jener der Menschheit vorziehen, mit der sie sich durch jede Minute eines fortgesetzten Krieges bel dt! Zum Gl ck verl ngern ihn nicht mehr unsere Siege, sondern verk rzen ihn schon unsere Niederlagen. Sagte ich Ihnen nicht einst, dass der Durchbruch bei Gorlice, die ihm verdankte Fristerstreckung des Zusammenbruchs, mit Millionen Menschenleben bezahlt w rde? Dies war ehedem paradox, aber nun best tigt es die große Zeit. Der Optimist: Nun, was die Gr ße dieser Zeit betrifft, so muss selbst ich zugeben, dass sie seit dem Ultimatum an Serbien nicht erheblich gewachsen ist. Darin behalten Sie wohl recht, dass alles an ihr so klein ist, wie Sie es immer gesehen haben. Oder man k nnte vielmehr sagen, dass eine große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden hat. Der Nörgler: Das ist ein Pech. Aber auf welche Wahrnehmungen st tzen Sie Ihre Ansicht? Der Optimist: Ich wollte es Ihnen nicht sagen, aber ich habe heute eine Annonce entdeckt, die in den Tagen, wo die Zeitung vorne Generalstabsberichte von so gewichtigem Inhalt bietet, immerhin zu denken gibt. Der Nörgler: Wie kann man nur in den Tagen, wo die Zeitung vorne Generalstabsberichte von so gewichtigem Inhalt bietet, Augen f r eine Annonce haben? Der Optimist: Urteilen Sie selbst. Der Nörgler (liest): „Mein Pipihendi! Hast Du mich lieb? Sehr lieb? Wie sehr lieb? Werde warten, bis Du schreibst oder kommst. Mitzi.“ Sehen Sie, die Zeit hat noch Liebe. Und ich hatte geglaubt, nur ihr Hass sei gewachsen und mit ihm ihr Hunger. Was aber die Dummheit anlangt, so tritt sie nur klarer in den Dimensionen hervor, die ich ihr l ngst zuerkannt habe. Wollen Sie das sterreichische Antlitz sehen? Es ist zwar durch eigene Schuld unterern hrt, aber es spiegelt sich geistig in dem Kn del, den diese Ansichtskarte als ein Idealbild der Wiener Phantasie darbietet. Ich revanchiere mich, der Text d rfte von jenem Pipihendi sein. Der Optimist (liest): Wenn ich mir etwas w nschen sollt, ich w sst’ schon lange, was ich wollt! Ein Kn del m sst’ es sein, Aus Semmeln gut und fein! Der Nörgler: Treuland-Verlag! Es spricht zum Herzen und sagt den Leuten mehr als „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Im Jahre 1914 hat sich diese Bev lkerung zu einer Romantik des Kn delideals verurteilt und ich k nnte es weltgerichtsordnungsm - ßig beweisen, dass die Epoche, die eine solche Ansichtskarte erm glicht hat, identisch sein muss mit der Epoche, deren letzter realer Besitz die Fliegerbombe war. W ren die Machthaber, die ja so gottverlassen sind, nichts zu tun haben als die macht, w ren sie f hig, solche Zusammenh nge zu erfassen, so w re der Krieg nie begonnen worden oder l ngst beendet. Der Optimist: Dazu besteht vorl ufig keine Aussicht, jetzt kommt die f nfte Musterung. Der Nörgler: Denn der Mensch k nnte sonst vergessen, wozu ihn Gott erschaffen hat. Der Optimist: Das w re? Der Nörgler: Damit er vor der Assentkomtnission8 erscheine. Sie waren nackt, und sie sch mten sich nicht. 1 Ecke Kärntner Straße/Kärntner Ring 2 an einem Mulatschak (Trinkgelage) teilnehmen 3 ausdruckslos, starr 4 hier: Kriegsministerium 5 Frauen, auch Prostituierte 6 Faulenzer 7 Schlacht von Asiago 8 Verballhornung von „Assentkommission“, veraltet für: Musterungskommission QUELLE: Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. Bühnenfassung des Autors. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. S. 5. 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 162 164 166 168 170 172 174 155 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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