sprachreif 3/4, Schülerbuch

Semestercheck Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit 1. Szene Abend. Sirk-Ecke1. Nasskalt. Es regnet von unten. Tonloses Starren des Rudels Böcke. Spalier der Verwundeten und Toten. Stimme eines Zeitungsausrufers: Der Aabeend, Aachtuhrblaad! Ein Offizier (zu drei anderen): Gr ß dich Nowotny, gr ß dich Pokorny, gr ß dich Powolny, also du – du bist ja politisch gebildet, also was sagst zu Bulgarien? Bulgarien – im September 1918 brach die bulgarische Front zusammen, Bulgarien trat aus dem Krieg aus Zweiter Offizier (mit Spazierstock): Weißt, ich sag, gar net ignorieren! Der Dritte: Weißt – also nat rlich. Der Vierte: Ganz meine Ansicht – gestern hab ich mullattiert2 –! Habts das Bild vorn Sch npflug gsehn, Klassikaner! Stimme eines Zeitungsausrufers: Friedensversuche der Eenteentee! Der Dritte: Stier3 is heut. Der Erste: Weißt, im KM4 hat heut der Schlepitschka von Schlachtentreu gesagt, wir n hern uns dem Riesen mit Friedensschritten oder nein, wir n hern uns dem Frieden mit Riesenschritten, du is das wahr? Das is doch optimistisch? Der Zweite: Pessimistisch ist das. Der Erste: Pessimistisch. Weißt, er hat gesagt, in der T rkei is ein kranker Mann, dann kommen wir dran, du also wieso? Der Zweite: Er meint halt die Lage und so. Der Erste: Ah so. Der Dritte: Heut sind keine Menscher5. Der Zweite: Der Fallota kommt heut. Greise ziehen vorbei. Man hört den Gesang: In der Heimat, in der Heimat, da gibts ein Wiedersehn – Poldi Fesch (zu seinem Begleiter): Morgen wird mit dem Sascha Kolowrat gedraht – (ab.) (Man hört die Fiakerstimme: Im Kriag kriag i’s Fuchzichfache!) Der Vierte: Wissts ihr, wie s’ ihn drin nennen im KM den Fallota? Held nennen s’ ihn. Der Erste: Wieso? Der Vierte: No verstehst nicht, er war doch an der Front! Er sagt, dort war ihm lieber. Der Erste: No solln s’ ihn nicht zr ckhalten. Leben und leben lassen! No is doch wahr? […] Fallota (tritt auf): Gr ß euch! Der Erste: Gr ß dich Held! Alle: Gr ß dich Held! Fallota: Wieso Held? Pflanzts wem andern! Ein Blumenweib: Veigerl! Der Vierte: No du wie is gegangen? Bist froh? Erz hl beim Hopfner! Der Erste: Aber ja, kommst mit, bist a Feschak – Der Zweite: No wie wars draußen? Fallota: Fesch wars. Der Dritte (versunken): Der Strich is wie ausgestorben. Der Erste: No du, wie gehts also? Fallota: Man lebt. (Zwei Beinstümpfe in einer abgerissenen Uniform treten in den Weg.) Der Zweite: Kommts weg da, nix wie Tachinierer6! (Ab.) Stimme eines Zeitungsausrufers: Extraausgabee –! Die Millionenverluste der Eenteentee! Eine flüsternde Stimme: Komm her, ich sag dir was. (Stille. Plötzlich ein brausender Ruf, donnerhallartig: Hoooch! Hierauf. Schleeschaak –! Der Ruf scheint von der Gegend des Operngebäudes zu dringen. Ein Wagenschlag fällt. Dann Schweigen.) (Verwandlung.) 2. Szene Der Optimist und der Nörgler im Gespräch. Der Nörgler: Gott wer darf sagen: schlimmer kanns nicht werden? ’s ist schlimmer nun, als je. Und kann noch schlimmer gehn; ’s ist nicht das Schlimmste, solang man sagen kann: dies ist das Schlimmste. Kinder, die Gesichter haben, als hungerten sie schon ein Menschenalter – und noch kein Ende! Aber das Schlimmste ist in diesem Bericht ber eine Nervenheilanstalt enthalten. Einer sitzt da im blaugestreiften Kittel und b ßt die Glorie von Asiago7, wo er von einer Granate versch ttet wurde, mit unheilbarer Schwermut. Einem steckt die Kugel im Kopf; um den wahnsinnigen Schmerzen zu entgehen, musste er Morphinist werden. Abends br llt er verzweifelt nach der Pflegerin und alle beginnen vor Aufregung zu weinen. Ein hirnkrankes Kind schreit, zwei Monate nach dem Heldentod geboren, den die schwangere Mutter erwartet hat. Eine, deren S hne heil zur ckgekehrt sind, hat’s nicht abgewartet und ist vorher wahnsin2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 154 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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