Semestercheck sterben ließe, warum auch nicht. Mit dem Blick auf den Donauturm, auf das Allgemeine Krankenhaus, auf das Riesenrad, das in der Nachmittagssonne flirrt. Die Frau streicht ihren Rock glatt. Sie scheint zufrieden mit meiner Antwort. Die Klosp lung rauscht, und dann steht Raoul schon wieder im Zimmer. Er muss den Kopf einziehen, um nicht an die Kassettendecke zu stoßen. „Mit dem Hochhaus ist das so eine Sache“, sagt die Frau. „Anonym, wissen Sie. Dreizehn Nachbarn in f nfzehn Jahren. Wie soll man sich da an wen gew hnen?“ Ich frage mich, ob man sich berhaupt jemals an irgendwen gew hnen kann. Oder ob es nur die gemeinsamen Rituale sind. Bevor wir einschlafen, w rmt Raoul meine F ße, indem er mit seinen Waden meine Fußsohlen reibt. Wir haben da eine spezielle Technik entwickelt. Daf r nehme ich einiges in Kauf. Ich schaue der Frau ins Gesicht und erkenne pl tzlich, wie sie ausgesehen haben muss, als sie jung war. Ich suche die Wand nach Fotos ab: Eltern, Kinder, M nner. Nichts. Vielleicht hat sie ein Kind bekommen, und es ist gestorben, vielleicht hat sie einen Mann gehabt, und er ist gestorben, vielleicht hat sie immer nur sich gehabt und ist alt geworden, ohne es zu merken. „Seit einigen Jahren wohnt ein Blinder im Haus“, sagt die Frau. „Sein Hund kann mit der Schnauze den Aufzug bedienen und hat sich noch kein einziges Mal geirrt. Er hat mich sogar einmal ausgebessert, als ich mich verdr ckt hatte.“ Ich male ein Galgenm nnchen in meinen Block. Galgen, Kopf, Rumpf, Arm, Arm, die H nde sind kleine Kreise. Seit kurzem z hle sie ihre Schritte, sagt die Frau. Sie m sse mit ihren Kr ften haushalten. Sieben Schritte vom großen Tisch zur Kredenz, zweiundzwanzig Schritte in die K che. Sie steht auf und sagt: „Acht Schritte vom Fauteuil zum Herrn“, und gerade, als ich fragen will: „Zu welchem Herrn?“, zeigt sie auf ein Kruzifix, an dem ein erstaunlich wohlgen hrter Christus befestigt ist. Pausbacken, ein Rettungsring um die Mitte, feste Schenkel. Er sei gerne draußen an der frischen Luft, sagt sie. Wegen ihm habe sie sich f r den siebzehnten Stock entschieden. „Damit er n her am – Sie wissen schon.“ Sie deutet mit dem Zeigefinger an die Decke. Ich wechsle einen Blick mit Raoul. Jetzt hat er seine Story, daran wird er sich festbeißen, um sie sp ter in Ruhe auszuweiden. Im Park Rothneusiedl wohnen lauter Irre, wird er sagen, v llig Verr ckte. Blindenhunde, die mit Aufz gen fahren, alte Jungfern, die ihre Kruzifixe auf dem Balkon ausl ften. „Und? Gef llt es ihm hier?“, fragt Raoul. „An klaren Tagen sieht man bis zum Kahlenberg“, sagt die Frau. „Das k nnen Sie ruhig schreiben.“ Sie deutet auf mich. „Los, schreiben Sie das auf! Kahlenberg.“ Ich zeichne die Beine des Geh ngten, seine Schuhe und den Querbalken des Galgens. Die alte Frau l st das Kruzifix vom Haken, beil ufig, so wie man eine Jacke von einem Garderobehaken nimmt und ffnet die Schiebet r zum Balkon. „Na los“, sagt sie zu uns, kommen Sie!“ Der Balkon ist aus Beton und so groß wie zwei Doppelbetten. Am Horizont die Silhouette der Stadt, scharfe R nder, in den Himmel gemeißelt. Kein Laut, so als st nden wir auf einem Berggipfel. Gundula Jesovsky nennt die Nachbarn, indem sie mit dem Kruzifix auf die Balkone deutet: „Brunner, Haberl, Wasmaier, Konrad, das ist der Blinde. Sehen Sie die Babybadewanne? Darin badet er seinen Hund.“ Als sie „Hund“ sagt, geschieht es. Eine winzige Unachtsamkeit, eine Fehlschaltung der Synapsen, eine vor bergehende Muskelschw che, jedenfalls ffnet sie ihre Hand, ich sehe pl tzlich einen Gegenstand durch die Luft sausen und denke mir: Woher das wohl kommt. Raoul ruft „Nein!“ und rudert sinnlos mit den Armen durch die Luft, Gundula Jesovsky sagt gar nichts, sie sieht aus, als h tte sie aufgeh rt zu atmen. Wir beugen uns alle drei ber die Br stung und sehen dem Herrn Jesus nach, der einen Salto r ckw rts vollf hrt, beinahe elegant, und ich muss mich beherrschen, um nicht zu klatschen. Dann ein dumpfer Ton, ein Aufklatschen, und Raoul sagt: „Haben Sie das geh rt? Er ist in der Babybadewanne gelandet, er ist gerettet.“ Raoul wiederholt das Wort wie ein Mantra: „Gerettet, gerettet, gerettet.“ Bei Gundula Jesovsky scheint es nicht anzukommen, immer noch h lt sie sich an der Br stung fest, die Kn chel ihrer Finger sind weiß vor Anstrengung. Ich sehe Raoul an, und er sieht mich an. Ich m chte so gerne sagen: Es ist ein Versehen, wir 162 164 166 168 170 172 174 176 178 180 182 184 186 188 190 192 194 196 198 200 202 204 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 226 228 230 232 234 236 238 240 242 244 246 248 250 252 254 256 258 260 152 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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