„Was, und jetzt?“ „Na was jetzt?“ Rund um die Pyramide erstreckt sich die Bulimiezone der Stadt. Alles sieht aus wie zerkaut und ausgespuckt. Kein Park weit und breit, nicht einmal ein Gr nstreifen. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schaue hinauf zu den Balkonen. Schlaffe Kletterpflanzen, die sich am Sichtbeton entlangranken, gelb-weiß gestreifte Markisen. Dazwischen ein Eckchen Himmel, eingeklemmt zwischen der Pyramide und dem Docht des Fernheizkraftwerkes. „Los, du l utest an.“ „Nein, du l utest, ich rede.“ Ich entscheide mich f r Gundula Jesovsky. Guter Sound, ein Name im Dreivierteltakt. „Ja.“ Eine d rre Stimme. Raoul schiebt sich vor die Gegensprechanlage. „Scheinmeier“, sagt er. „Gr ß Gott.“ Es knackt und rauscht in der Leitung. „Von der Bibelrunde?“ „Nein, wir – also wir kommen von der Uni Wien. Dekanat f r Hochhauspsychologie.“ Hochhauspsychologie! Der Mann hat Nerven. Ein Summen, Raoul dr ckt gegen die T r. Im Treppenhaus ist es kalt. Auf der Treppe zum Keller: eine Kinderwagenprozession. Der Aufzug reißt sein Maul auf. Siebzehnter Stock. Ich weiß nicht, was wir hier verloren haben. Es riecht nach Hund. Ich beobachte die schattige Mulde zwischen Raouls Nase und seinem Mund. An der Ecke des Schneidezahns ist eine Einkerbung, die mit der Zeit dunkler geworden ist. Der ganze Mann dunkelt nach, er bekommt Flecken, Kerben, Risse. Von einer Fieberblase ist eine kleine rosa Narbe brig geblieben. Immer wieder hatte er an der Wunde gekratzt, die frische Haut mit den Fingern geln weggeschabt. Ich frage mich, wie er aussehen wird, wenn er fertiggemeißelt ist. „Herr Dekan“, sage ich. „Lass mich nur machen“, sagt er und grinst. Er kontrolliert seinen Seitenscheitel im Spiegel. Gundula Jesovsky steht an der T r. Sie ist klein und schrumpelig, wie ein Kleidungsst ck, das mit zu hoher Drehzahl geschleudert wurde. In ihren Augen spiegelt sich die Ehrfurcht vor dem Akademischen. Sie bittet uns in einen dunklen Flur, dann weiter in ein dunkles Wohnzimmer. Kassettendecken, Biedermeier-Mobiliar, eine Pendeluhr. Es riecht nach nasser Wolle. Diese Frau geh rt in eine Altbauwohnung im Zentrum, denke ich, mit Fl gelt ren und hohen Decken, damit die Erinnerungen gut zirkulieren k nnen. Sie bietet uns Zirbenschnaps an, und ich sage: „Bitte keine Umst nde“, aber sie scheint sich ber den Besuch zu freuen, und ich bereue bereits, dass wir hergefahren sind und Erwartungen wecken, die wir niemals erf llen k nnen. „Ich gehe nicht oft hinaus“, sagt sie. „Denn ich muss ja mit dem Lift hinunter und danach wieder hinauf, dazwischen kann viel passieren. Wenn man jung ist, denkt man nicht daran. Aber dann kommt das Alter, und man hat Angst, dass der Lift stecken bleibt.“ Fr her sei sie gerne ins Theater gegangen, sagt sie. Nach Sch nbrunn und in die Oper. Vor allem in die Oper. „Und eines Tages“, sagt sie, „habe ich die Spiegel gesehen und war alt.“ Ich suche mein Spiegelbild im Glas, um den Zustand meiner Wangen zu kontrollieren. Das Alter beginnt an den Wangen, sagt man, dann metastasiert es in andere K rperteile. Ganz langsam – eine grausame Finte der Natur, damit man sich nicht wehren kann. Wenn man sich zu wehren beginnt, ist es immer schon zu sp t. Zun chst erschlafft die Haut, dann verlieren die Konturen des Kinns an Sch rfe, der Hals wird breiter und wulstiger, bis er so aussieht, als sei er aus mehreren Ringen zusammengeschraubt. Ich habe so eine Entwicklung schon mit angesehen und f rchte mich davor, deshalb trinke ich schnell aus. Der Schnaps schmeckt nach dunklem, feuchtem Wald. Ich blinzle hin ber zu Raoul, der sein Glas zwischen den Fingern dreht. Er vertr gt keinen Alkohol. Als wir das letzte Mal Wo ich niemals sterben m chte spielten, sagte er: „In der dunkelsten Ecke der Brauerei, eingeklemmt zwischen zwei Bierf ssern.“ „Dann kommen Sie also von der Universit t“, sagt die Frau. „Darf ich Ihr Bad ben tzen?“, fragt Raoul und ich denke: Großartig, immer wenn es eng wird, macht er sich aus dem Staub. „Wir untersuchen die Auswirkungen des Wohnungsniveaus auf die Lebensqualit t“, sage ich, ohne nachzudenken. Ich bin mittlerweile davon berzeugt, dass wir uns geirrt haben, und dass es sich hier sehr wohl gut 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 156 158 160 151 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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