Semestercheck AUF DEM WEG ZUR MATURA Isabella Straub: Herr Jesus springt (2011) Wenn Raoul gut gelaunt ist, spielen wir Wo ich niemals leben möchte. Wenn er schlecht gelaunt ist, aber immer noch gut genug, um sich aufheitern zu lassen, spielen wir Wo ich niemals sterben möchte. Wenn ich merke, dass die Stimmung kippt, lasse ich ihn gewinnen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und tue so, als w rde ich nachdenken, obwohl ich tausend Orte nennen k nnte, an denen ich nie und nimmer sterben m chte. Wenn es so weit ist, reibt Raoul sich die H nde. Manchmal kneift er mich auch in die Wange, das kann ich nicht leiden. „Gewonnen.“ „Scheint so.“ „Feiern wir?“ Er ffnet den G rtel seiner Hose, l sst mich dabei nicht aus den Augen. Seine Beine sind weiß und d nn wie zwei Leuchtstoffr hren. W hrend ich meine Mundh hle mit Tee vorw rme, erinnere ich mich an meine Klavierlehrerin. In ihrer Wohnung m chte ich nie und nimmer sterben, das steht fest. Sie hieß Frau Weinzierl und war sehr gl ubig. Auf ihrem Klavier lagen drei Rosenkr nze. An der Wand hing ein in einen Goldrahmen gefasstes Foto, das sie mit dem Papst zeigte. Sie kniet vor dem Papst so wie ich vor Raoul. Bereit, beinahe alles zu tun. Der Papst ist l ngst tot und selig gesprochen. Raoul ist lebendig und warm. Manchmal kniff uns Frau Weinzierl in die Wange, aber nur, wenn sie gut gelaunt war. Wenn sie schlecht gelaunt war, notierte sie jeden unserer Fehler in einem Schulheft. G statt Gis, Dominantseptakkord misslungen, Pause nicht eingehalten. Wir mussten uns unsere Strafe selbst ausdenken. Um uns gegenseitig zu versichern, wie gut es uns geht, fahren Raoul und ich in unregelm ßigen Abst nden an einen Ort, der sowohl in der Wertung Wo ich niemals leben möchte als auch in der Wertung Wo ich niemals sterben möchte vorn dabei ist. Diesmal ist es der Park Rothneusiedl, ein Wohnturm an der Wiener Peripherie. Er sieht aus wie eine Pyramide, an die man Balkone drangeschraubt hat. Rothneusiedl ist ein beliebter Hot Spot f r Selbstm rder, sagt Raoul. Vor allem wegen seiner Schikane. Da sich das Geb ude nach unten hin verbreitet, m ssen die Lebensm den einen ordentlichen Anlauf nehmen, um nicht auf einem der Balkone aufzuschlagen, zwischen Pelargonien und Kugelgrill. Das gelinge nicht allen, sagt Raoul. Ich weiß nicht, ob ich ihm das glauben soll, aber ich tue es. Schließlich werden wir im Juni heiraten, und Ehe bedeutet Vertrauen, sagte der Priester im Ehevorbereitungskurs. Wobei er „Vertrauen“ aussprach wie „verdauen“, und ich dachte: Ja, eine Menge zu verdauen, auch schon vor der Hochzeit. Wir m ssen zweimal die U-Bahn-Linie wechseln, dann stehen wir vor der Pyramide wie zwei Touristen, die sich verlaufen haben. „Und jetzt?“ Thema: Textinterpretation der Kurzgeschichte Herr Jesus springt A1 Lesen Sie die Kurzgeschichte Herr Jesus springt, mit der die Autorin Isabella Straub den FM4-Kurzgeschichten-Wettbewerb Wortlaut im Jahr 2011 gewonnen hat (das Überthema lautete „Zirkus“). Schreiben Sie nun die Textinterpretation und bearbeiten Sie dabei folgende Arbeitsaufträge: • Fassen Sie die Textgrundlage zusammen. • Erschließen Sie sprachliche und erzählerische Mittel, die für eine Interpretation der Kurzgeschichte wichtig sind. • Deuten Sie die Gedanken und das Verhalten sowohl von Raoul als auch von seiner Verlobten und Frau Jesovsky. Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 150 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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