in allen Gef hlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, dass Gef hle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle B rger gleich, aber nicht alle waren eben B rger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, dass man es gew hnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedes Mal, wenn alles sich schon ber den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, dass nun doch wieder parlamentarisch regiert werden m sse. Solcher Geschehnisse gab es viele in diesem Staat, und zu ihnen geh rten auch jene nationalen K mpfe, die mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, dass ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen w re. Und es war auch nichts Wirkliches gewesen. Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon fr h, und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet, das noch große Folgen h tte haben k nnen, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden w re. Denn nicht nur die Abneigung gegen den Mitb rger war dort bis zum Gemeinschaftsgef hl gesteigert, sondern es nahm auch das Misstrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewissheit an. Man handelte in diesem Land – und mitunter bis zu den h chsten Graden der Leidenschaft und ihren Folgen immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das f r Liebensw rdigkeit oder gar f r Schw che des ihrer Meinung nach sterreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch; und es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erkl ren. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewussten, einen unbewussten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie l sen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern B chlein eine andre Mulde zu f llen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgef llter R ume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausf llen sollte. Dieser, wie man zugeben muss, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gef rbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt. Soweit das nun berhaupt allen Augen sichtbar werden kann, war es in Kakanien geschehen, und darin war Kakanien, ohne dass die Welt es schon wusste, der fortgeschrittenste Staat; es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, st ndig im Gef hl der unzureichenden Gr nde der eigenen Existenz und von der großen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht unwiderruflich Geschehenen wie von dem Hauch der Ozeane umsp lt, denen die Menschheit entstieg. Es ist passiert, sagte man dort, wenn andre Leute anderswo glaubten, es sei wunder was geschehen; das war ein eigenartiges, nirgendwo sonst im Deutschen oder einer andern Sprache vorkommendes Wort, in dessen Hauch Tatsachen und Schicksalsschl ge so leicht wurden wie Flaumfedern und Gedanken. Ja, es war, trotz vielem, was dagegen spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land f r Genies; und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen. QUELLE: Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften I. Erstes und Zweites Buch. Herausgegeben von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2003, S. 31 ff. (Rechtschreibung adaptiert) 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 154 140 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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