sprachreif 3/4, Schülerbuch

„Der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte“ Robert Musil (1880–1942) prägt im (unvollendeten) Werk Der Mann ohne Eigenschaften den ironischen Ausdruck „Kakanien“ für die Österreichisch-Ungarische Monarchie; dies leitet sich von „k.u.k.“, „kaiserlich und königlich“ ab. A24 Kein anderer beschreibt den Untergang der Donaumonarchie mit treffenderen Worten als Robert Musil. Nachdem Sie das folgende 8. Kapitel des 1. Buches aus Der Mann ohne Eigenschaften gelesen haben, machen Sie sich gemeinsam mit Ihrer Partnerin bzw. Ihrem Partner darüber Gedanken, welches Bild Musil von Österreich-Ungarn zeichnet und woran Sie die Bezeichnung „Kakanien“ noch denken lässt. Recherchieren Sie dazu auch in einer Bibliothek oder im Internet, z. B. auf der Seite www.ostarrichi.org (Österreich-Lexikon). Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1930) Kapitel 8: Kakanien […] Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist, gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußm rsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Fl sse der Ordnung, wie B nder aus heilem Soldatenzwillich durchzogen und die L nder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. Und was f r L nder! Gletscher und Meer, Karst und b hmische Kornfelder gab es dort, N chte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe, und slowakische D rfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgest lpten Nasenl chern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen H geln kauerte, als h tte die Erde ein wenig die Lippen ge ffnet, um ihr Kind dazwischen zu w rmen. Nat rlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach S damerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und bersee h rte man an wie etwas noch g nzlich Unerprobtes und Fernes. Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so berfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so n rrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen f r das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, dass man sicher die zweitschw chste der Großm chte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern gr ßten St dte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches gr ßer, als es bloß Großst dte sind. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgekl rten, wenig f hlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten B rokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde berdies immer nur ein Genie f r einen L mmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der L mmel f r ein Genie. berhaupt, wie vieles Merkw rdige ließe sich ber dieses versunkene Kakanien sagen! Es war zum Beispiel kaiserlich-k niglich und war kaiserlich und k niglich; eines der beiden Zeichen k.k. oder k.u.k. trug dort jede Sache und Person, aber es bedurfte trotzdem einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden zu k nnen, welche Einrichtungen und Menschen k.k. und welche k.u.k. zu rufen waren. Es nannte sich schriftlich sterreichisch-ungarische Monarchie und ließ sich m ndlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber B 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Robert Musil, um 1930 139 Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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