sprachreif 3/4, Schülerbuch

A50 Lesen Sie die Reportage und diskutieren Sie mit Ihrer Partnerin oder Ihrem Partner, auf welche Probleme der Autor aufmerksam machen will. B 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 Als Wiener hat man ja eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, wie ein Gulasch zu sein hat. Im Detail kennt man das Rezept zwar nicht unbedingt, aber dass Rindfleisch und Zwiebel und Paprika drin sind, das weiß ja wohl jeder. […] Außerdem weiß man, dass ihm Aufwärmen guttut und ein Bier am besten dazu passt. Beim Gulasch macht man uns Wienern eben nix vor, da kennen wir uns aus. Zumal es ja unser zweites Nationalgericht ist – gleich hinter der unangefochtenen Nummer eins, dem gebackenen Schweinsschnitzel. Blöd nur, dass das Gericht, genau wie sein Name ja aus Ungarn stammen (wie eigentlich auch jeder weiß) und man dort unter einem Gulasch etwas ganz anderes versteht. In Ungarn bezeichnet der Begriff Gulyás, so die originale Schreibweise, nämlich eine Gulaschsuppe; und dort fällt das, was man hierzulande unter dem eingedeutschten Namen kennt, eher unter den Begriff Pörkölt. Bis in jüngste Zeit kümmerten diese gar nicht unwesentlichen Unterschiede in Namensgebung und Zubereitung allerdings kaum jemanden. Die Ungarn hatten ihr Gulyás und die Wiener eben ihr eigenes – […] Zumal das Gulasch als kulinarischer Import den Wienern in idealer Weise dazu dient, die angebliche Multikulturalität und den Reichtum der eigenen Küche beispielhaft zu belegen. Einer Küche, die, so der Mythos, einst aus den zahlreichen Einflüssen und Kochstilen eines untergegangenen Vielvölkerreichs entstand. In Teufels Küche Doch nun könnte sich alles ändern. Schuld daran: der Vorwurf der sogenannten Cultural Appropriation, zu Deutsch der kulturellen Aneignung. Dieser hat nämlich nach den Bereichen Künste, Mode und Frisuren längst auch jenen der Küche erreicht. […] Doch was ist das eigentlich, kulturelle Aneignung? Nun, vereinfacht gesagt tritt diese jedes Mal dann ein, wenn Mitglieder einer „Dominanzkultur“ sich an den kulturellen Errungenschaften von Minderheiten bedienen, ohne dabei den Wert der jeweiligen Kultur zu respektieren. Etwa indem sie die Frisuren oder Kleidung besagter Minderheit übernehmen, um die Verkaufszahlen ihres eigenen Werks zu steigern. Das hat man etwa Katie Perry vorgeworfen, als sie mit Cornrows auftrat. Oder dem Modelabel Gucci, das Models mit Turbanen über den Laufsteg schickte. […] Gewürze Und „unser“ beziehungsweise „deren“ Gulasch? Von Aneignung könnte man hier gleichfalls sprechen – insofern als sich eine Dominanzkultur ein Gericht einer unterdrückten Minderheit (und als solche kann man die Ungarn, zumindest bis zum österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, wohl bezeichnen) zu ihrem eigenen machte. Dazu ist allerdings zu sagen, dass die entscheidendste Zutat aller Gulasche, nämlich der Paprika, aus Mittel- beziehungsweise Südamerika stammt. Und von den dortigen Bevölkerungen lange vor der Ankunft der Europäer angebaut und gegessen wurde. Verbindend Das Beispiel belegt vor allem eines, nämlich dass kaum etwas ungeeigneter ist als die Küche, um kul40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Gulasch oder Gulyás: Kulturelle Aneignung in der Küche Georges Desrues | 16.05.2021 Bei respektlosem Umgang mit anderen Kulturen ist von Cultural Appropriation die Rede. Warum auch immer mehr Köchen dieser Vorwurf gemacht wird. 114 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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