Und wenn vom holden Wahnsinn trunken er zitternd Vers an Vers gereiht, dann schien auf ewig ihm versunken die Welt und ihre Nüchternheit. In Fetzen hing ihm seine Bluse, sein Nachbar lieh ihm trocknes Brot, er aber stammelte: O Muse! und wusste nichts von seiner Not. Er saß nur still vor seinem Lichte, allnächtlich, wenn der Tag entflohn, und fieberte und schrieb Gedichte, ein Träumer, ein verlorner Sohn! QUELLE: Holz, Arno: Bargfelder Ausgabe. Studienausgabe. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2013. Erzählungen im Naturalismus A41 Lesen Sie den Einstieg des Romans Dilettanten des Lebens von Clara Viebig und überlegen Sie, welche gesellschaftlichen Probleme im Text genannt werden. A42 Diskutieren Sie in Gruppen, welche gesellschaftlichen Probleme naturalistische Autorinnen und Autoren in ihren Texten heute aufgreifen würden. Besprechen Sie die Ergebnisse im Plenum. Clara Viebig: Dilettanten des Lebens „Ich bin nicht überflüssig hier, du kannst mich brauchen“, sagte Lena langsam, „das beruhigt mich!“ Sie hob das bräunliche Gesicht und sah den Bruder sinnend an. „Was du für Falten auf der Stirn hast, Fritz!“ Sie fuhr leicht mit der Hand über seine Stirn. „Mein Bruder, sind es Sorgenfalten? Meinetwegen? Bist du nicht glücklich?“ „Glücklich?“ Er lächelte, aber es war ein etwas bittres Lächeln. „Natürlich. Ich habe ja alles, was das Herz begehrt. Ich mache mir nur oft Sorge um dich. Noch haben wir unsre gute Mutter: aber wie lange?! Ich kann dich mir nicht allein der Welt vorstellen, du bist nicht die Person dazu. Es wäre mir direkt unangenehm, dich in Pensionen und dergleichen zu wissen – hm.“ Er räusperte sich. „Sage doch nicht Lena, dass du nicht mehr an Heiraten denken willst; das ist Unsinn! Einmal gemachte bittre Erfahrungen mahnen nur zur Vorsicht, aber sie brauchen nicht für immer abzuschrecken!“ Sie schüttelte den Kopf: „Mir graut vor der Liebe, Fritz! Ich mag nicht mehr. Die Freude ist so kurz – und dann all die Tränen!“ Ihr Gesicht wurde bleib. „Hab’ ich den – den“, sie stockte und zögerte, den Namen auszusprechen, „den – ach, du weißt schon! – nicht geliebt? Schien er mich nicht zu lieben? Und doch war’s nichts, wieder nichts! er hat sich mit der Reichen verlobt, jetzt heiraten sie bald.“ Sie legte den Kopf auf den Tisch und weinte. „Jetzt promeniert er mit ihr über die Linden, oder sie schlendern durch den Tiergarten. Es ist nicht darum, aber“ – sie schluchzte heftig auf – „es ist die Enttäuschung; ich kann keine mehr ertragen. Paß auf, noch eine, und ich sterbe dran. Ich will dann auch sterben!“ „Lena, Lena, du bist kindisch heftig!“ Sein schon ergrauender Kopf schmiegte sich an ihren dunklen Scheitel. „Meine Schwester, soll ich dich mal wieder trösten, wie ich dich so oft als Kind getröstet habe? Weißt du noch, wie du heultest, wenn du nachsitzen mußtest oder einen Tadel bekommen hattest oder ein schlechtes Zeugnis?“ Sie schluchzte noch immer. „Nur singen konntest du gut, da bekamst du immer Nummer eins. Weißt du noch, wie ich dich auf den Schoß nahm, wenn du untröstlich warst? Hier auf diesem linken Knie hast du oft gesessen, immer auf dem linken, deinen zerzausten Kopf stecktest du unter meinen Rock –“ QUELLE: Viebig, Clara: Dilettanten des Lebens. Wien, Berlin: Ullstein 1905. (Original-Rechtschreibung) A43 Sie haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche heutigen gesellschaftlichen Probleme naturalistische Autorinnen und Autoren behandeln würden. Werden Sie nun zur Autorin/zum Autor und verfassen Sie einen gesellschaftskritischen Text im naturalistischen Stil. Schreiben Sie zwischen 250 und 350 Wörter. C 22 24 26 28 30 32 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 111 Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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