sprachreif 2, Schülerbuch

22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 oberste aller Instanzen? Aber den Polizisten auf der Straße müssen wir siezen, ansonsten droht uns eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung. Wurde auf einer Beerdigung die Leiche im Sarg jemals mit SIE angeredet? Nein. Hier gilt das DU. Warum ausgerechnet bei den Toten? […] Bei Ikea wird kategorisch jeder geduzt. Sollte ein Kunde jedoch seinen Wagen falsch geparkt haben, lautet die Durchsage im Möbelhaus: „Der Fahrer des Wagens xyz … Würden SIE bitte …“ usw. Und dann gibt es noch die 3000-Meter-Regel: Oberhalb davon ist in den Bergen ausnahmslos das DU angesagt. Beim Bergrettungsdienst und auch beimMilitär. […] Langsam reicht es, denken viele Bürger. Sie ärgern sich über die offensive Duzerei imÖkoladen, in der Werbung, im Fitness-Studio und häufig sogar am Arbeitsplatz. Schon 1998 klagte ein Hennes-&- Mauritz-Angestellter in Hamm gegen die Zwangs- Duzerei unter seinen Kollegen. Er sei schließlich 45 und „kein junger Hüpfer mehr“, schimpfte der Mann – und bekam recht. […] [D]ie sprachliche Balance zwischen Vertraulichkeit und Distanz, Hierarchie und Nähe [ist] in Schieflage geraten. Täglich erleben wir, wie der DUSIE-Konflikt die eigene gesellschaftliche Identität und Gruppenzugehörigkeit infrage stellt. Peter Walschburger, Psychologe an der FU Berlin, scheint dies nicht weiter zu beunruhigen. Er sagt: „Die verbale Distanzregelung schwankt mit den Zeitläufen.“ […] Noch bis in die 1960er Jahre setzten die Anredepronomen eindeutige Signale, und ihre Handhabung war relativ einfach. Der Gebrauch von Du und SIE klärte die Rollenverteilung unter denMenschen und teilte sie ein in Vorgesetzte und Untergebene, Familie und Freunde. Die bürgerlichen Anredekonventionen unterlagen einer strengen Regelung. Ebenso der Übergang vom SIE zum DU. Wer darf wem wann und warum das DU anbieten? Die ältere Person der jüngeren, die sozial höher stehende der niedriger stehenden, der Mann der Frau? Als Zeichen langer Bekanntschaft, Wertschätzung und Sympathie trank man im aufstrebenden Nachkriegsdeutschland Brüderschaft (Schwesternschaft gab es nicht). Besiegelt wurde dieses Ritual mit einer herzlichen Umarmung. Der Übergang vom SIE zum DU hatte den Charakter eines Privatvertrags, den man nicht ohne Weiteres wieder rückgängig machen konnte. Umso peinlicher war das Schnaps-DUnach einer durchzechten Nacht. Aber abgesehen von derartigen Ausrutschern war die Welt der Anrede noch in Ordnung. Die amerikanischen Sprachwissenschaftler Roger W. Brown und Albert Gilman sprechen 1960 in einemAufsatz von den „Anredepronomen der Macht und Solidarität“. DU und SIE, so die Autoren, könne man in ihrer Verwendung auf zwei Dimensionen zurückführen: eine vertikale und eine horizontale. Die vertikale Dimension zeichnet sich durch Asymmetrie zwischen anredender und angeredeter Person aus. Das bedeutet, die rangniedrigere Person wird mit DU angesprochen, muss aber ein SIE zurückgeben. Die Autoren nennen diese Form der Ungleichbehandlung […] Überlegenheitssemantik. Die […] Zusammengehörigkeitssemantik […] zeichnet sich durch Symmetrie zwischen den Redenden aus. Die horizontale Dimension kann sich sowohl auf der DU-, als auch auf der SIE-Ebene abspielen. Doch schon Ende der 1960er Jahre bricht das semantische Kartenhaus von Gilman und Brown in sich zusammen. Durch die DU-Expansion der Studentenbewegung werden die gewohnten Strukturen auf den Kopf gestellt. Die plötzliche Verweigerung von SIE und Titel (Professor, Doktor) in der Ansprache ist der provokative Versuch, Hierarchie mit sprachlichenMitteln abzubauen. Die Studenten politisieren die Anrede stärker als zuvor und machen sie zu einer Art Weltanschauungskomponente. […] Leben wir inzwischen in einer hoffnungslos verduzten Gesellschaft? In vielen Betrieben duzt jeder jeden. Eine Studie belegt: Egal, ob DU oder SIE, Krawattenzwang oder Jeans, die innerbetriebliche Hierarchie bleibt stabil. […] Bessere Freunde scheinen wir auch durch das DU nicht geworden zu sein. Eine aktuelle Umfrage ergab: Bei vielen kommt das Duzen nicht mehr gut an. […] Sprachwissenschaftler beobachten einen Trend zurück zum SIE. Gerade die jüngere Generation scheint förmlicher geworden zu sein und benutzt verstärkt das SIE. Ist dies nun ein Zeichen für die Rückkehr zu Spießigkeit und Klassengesellschaft? […] Lutz Kuntsch, Mitarbeiter der Gesellschaft für Deutsche Sprache in Wiesbaden, sagt: „Das SIE zeigt nicht nur Distanz, sondern auch Respekt.“ Er findet es grundsätzlich schön, aus verschiedenen Möglichkeiten wählen zu können. […] QUELLE: P.M. Magazin. 12/2012. S. 42–45. 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 95 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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