sprachreif 2, Schülerbuch

Recht gesprochen wird. Dabei geht es um das „richtige“, d. h. der Sachlage wie der Absicht des Gesetzgebers entsprechende Auslegen der Gesetze. Da diese selbst offenbar nicht präzise genug sind, um eine solche Anwendung zu garantieren, müssen sie erläutert, „ausgelegt“ und sodann auf exemplarische Fälle „appliziert“, also angewendet werden. Drittens schließlich hat sich, verstärkt seit 1800 […] eine Theorie des Textverstehens und der Interpretation entwickelt, die wir heute allgemeine oder philosophische Hermeneutik nennen. Und zwar deshalb, weil sie die allgemeinen Voraussetzungen und Regularitäten des Verstehens und der Interpretation ergründen will; und weil dies innerhalb unseres Wissenschaftssystems zumeist – nicht immer – im Rahmen der Philosophie geschieht. […] Dem Theologen Friedrich Daniel Schleiermacher (um 1810) verdanken wir die Definition der Hermeneutik als die „Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen“. Der Philosoph Wilhelm Dilthey (um 1900) hatte das ehrgeizige Programm, die Hermeneutik zur Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften auszubauen, die auf dem geistigen Akt des „Verstehens“ basieren – im Gegensatz zu den „erklärenden“ Naturwissenschaften. […] Etwa gleichzeitig entwickelt ein fachlicher Außenseiter, nämlich der Mediziner Sigmund Freud, mit der Psychoanalyse das Modell einer „Tiefenhermeneutik“, die Träume oder auch neurotische Symptome quasi als Texte zu entziffern und zu „deuten“ sucht. […] Meistens verstehen wir Texte problemlos und daher auch unreflektiert. Hermeneutische Reflexion setzt ein, wenn Störungen auftreten und die Gefahr des Nicht- oder Missverstehens wächst. […] Verstehen – bzw. das Vermeiden von Missverständnis – kann […] vom Kontext […] abhängig sein […]. [Wenn wir einen Text verstehen wollen, bewegen wir uns] im sogenannten hermeneutischen Zirkel, gemäß Gadamers Regel, „daß man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen“ muss. […] Man muss [den hermeneutischen Zirkel] als Wechselspiel von Sprachverstehen und sachlichem Wissen begreifen und praktizieren. […] QUELLE: Vogt, Jochen: Einladung zur Literaturwissenschaft. Wilhelm Fink Verlag, 2008. S. 54-59. A13 Besprechen Sie mit Ihrer Sitznachbarin oder Ihrem Sitznachbarn die drei Ebenen der Hermeneutik und diskutieren Sie die unterschiedlichen Bedeutungen dieser Lehre. A14 Ergänzen Sie in der untenstehenden Tabelle die Aussagen der im Text genannten Philosophen bzw. Mediziner, die sich zum Thema Hermeneutik geäußert haben in eigenen Worten. Friedrich Daniel Schleiermacher Wilhelm Dilthey Sigmund Freud Hans-Georg Gadamer A15 Recherchieren Sie zur Thematik des „hermeneutischen Zirkels“ und versuchen Sie zu klären, was dieser für die Interpretation von Texten bedeutet. Besprechen Sie das Erarbeitete in der Klasse. A16 Fassen Sie zusammen, was Sie aus dem Sachtext lernen. B 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 67 Textkompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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