sprachreif 2, Schülerbuch

Vernunft und Verstand − die Aufklärung (1720–1770) Die Epoche der Aufklärung kennzeichnet sich besonders dadurch, dass die Menschheit erstmals dazu aufgefordert wird, nicht mehr blinden Gehorsam gegenüber den bisherigen übermächtigen Institutionen Staat und Kirche zu üben, sondern selbst für sich zu entscheiden und zu denken. Diese Forderung war für die Machtinhaber mit großen Gefahren verbunden, da sie praktisch zum Widerstand gegen die Mächtigen aufrief. Diese Zeit des 18. Jahrhunderts legte die Basis für viele Entwicklungen und soziale wie politische Veränderungen. Der eigene Verstand des Menschen stand im Mittelpunkt dieser Epoche und die „Erleuchtung“ (Enlightenment) der Menschen durch die Wahrheit war das erklärte Ziel von Literaten und Philosophen. Immanuel Kant und seine Bedeutung Immanuel Kant (1724–1804) war einer der bedeutendsten Aufklärer und übte mit seinen philosophischen Schriften einen großen Einfluss auf die Epoche und die Gesellschaft aus. Seine Bedeutung für die Zeit der Aufklärung kann kaum überschätzt werden. Daher wurde auch sein Werk, das die Frage „Was ist Aufklärung?“ beantwortet, zu einem der bekanntesten in der deutschen Literatur. A34 Lesen Sie nun einen Auszug aus Kants Text. Beantworten Sie folgende Fragen im Plenum: Welche Forderungen stellt Kant? Gegen wen richten sich seine Forderungen? Was sieht Kant als Ursache für die Missstände? Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab. Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, C 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 140 5 Nur zu Prüfzw cken – Eigentum des Verlags öbv

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