sprachreif - Deutsch Oberstufe, Schülerbuch

54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 Trotzdem, das mit dem Barometer, fand ich, ging ein bisschen zu weit. Ich nahm mir jedenfalls vor, es Jenö wieder abzunehmen. Aber als wir uns das nächste Mal trafen, hatte Jenö mir ein so herrliches Gegengeschenk mitgebracht, dass es unmöglich war, auf das Barometer zurück- zukommen. Es handelte sich um eine Tabakspfeife, in deren Kopf ein Gesicht geschnitzt war, das einen Backenbart aus Pferdehaar trug. Ich war sehr beschämt, und ich überlegte lange, wie ich mich revanchieren könnte. Endlich hatte ich es: Ich würde Jenö zwei Meerschweinchen geben. Es bestand dann zwar die Gefahr, dass er sie aufessen würde, aber das durfte einen jetzt nicht beküm- mern; Geschenk war Geschenk. Und er dachte auch gar nicht daran, sie zu essen; er lehrte sie Kunststücke. Innerhalb weniger Wochen liefen sie aufrecht auf zwei Beinen; und wenn Jenö ihnen Rauch in die Ohren blies, legten sie sich hin und überkugelten sich. Auch Schubkarrenschieben und Seiltanzen lehrte er sie. Es war wirklich er- staunlich, was er aus ihnen herausholte; Vater war auch ganz beeindruckt. Ich hatte damals außer Wallace und Conan Doyle auch gerade die zehn Bände von Doktor Dolittle durch, und das brachte mich auf den Gedanken, mit Jenö zusammen so was wie einen Meerschwein- chenzirkus aufzumachen. Aber diesmal hielt Jenö nicht durch. Schon bei der Vorprüfung der geeigneten Tiere verlor er die Lust. Er wollte lieber auf Igeljagd gehen, das wäre inter- essanter. Tatsächlich, das war es. Obwohl mir war immer ziemlich mulmig dabei. Ich hatte nichts ge- gen Igel, im Gegenteil, ich fand sie sympathisch. Aber es wäre sinnlos gewesen Jenö da beeinflussen zu wollen und das lag mir auch gar nicht. Er hatte sich für die Igeljagd einen handfesten Knüppel besorgt, der unten mit einem raugefeilten Eisenende versehen war; mit dem stach er in Laub- haufen rein oder stocherte auf Schutthalden unter alten Eimern herum. Er hat oft bis zu vier Stück an einem Nachmittag harpuniert; keine Ahnung, wie er sie aufspürte; er muss sie gerochen haben, die Burschen. Jenös Leute hausten in ihren Wohnwagen. Die standen zwischen den Kiefern am Faulen See, gleich hinter dem Stadion. Ich war oft da, viel häu- figer als in der Schule, wo man jetzt doch nichts Vernünftiges mehr lernte. Besonders Jenös Groß- mutter mochte ich gut leiden. Sie war unglaublich verwahrlost, das stimmt. Aber sie strahlte so viel Würde aus, dass man ganz andächtig wurde in ihrer Nähe. Sie sprach kaum; meist rauchte sie nur schmatzend ihre Stummelpfeife und bewegte zum Takt eines der Lieder, die von den Lagerfeuern er- klangen, die Zehen. Wenn wir abends mit Jenös Beute dann kamen, hockte sie schon am Feuer und rührte den Lehm- brei an. In den wurden die Igel jetzt etwa zwei Fin- ger dick eingewickelt. Darauf legte Jenö sie behut- sam in die heiße Asche, häufelte einen Glutberg über ihnen, und wir kauerten uns hin, schwiegen, spuckten ins Feuer und lauschten darauf, wie das Wasser in den Lehmkugeln langsam zu singen an- fing. Ringsum hörte man die Maulesel und Pferde an ihren Krippen nagen, und manchmal klirrte lei- se ein Tamburin auf oder, mit einer hohen, trocke- nen Männerstimme zusammen, begann plötzlich hektisch ein Banjo zu schluchzen. Nach einer halben Stunde waren die Igel gar. Jenö fischte sie mit einer Astgabel aus der Glut. Sie sahen jetzt wie kleine, etwas zu scharf gebackene Land- brote aus; der Lehm war steinhart geworden und hatte Risse bekommen, und wenn man ihn ab- schlug, blieb der Stachelpelz an ihm haften, und das rostrote Fleisch wurde sichtbar. Man aß grüne Pap- rikaschoten dazu oder streute rohe Zwiebelkringel darauf; ich kannte nichts, das aufregender schmeckte. Aber auch bei uns zu Hause war Jenö jetzt oft. Wir sahen uns die sechs Bände unseres neuen Konver- sationslexikons an; ich riss die Daten der nationa- len Erhebung aus meinem Diarium und schrieb rechts immer ein deutsches Wort hin, und links malte Jenö dasselbe Wort auf Rotwelsch daneben. Ich habe damals eine Menge gelernt; von Jenö mei- ne ich, von der Schule rede ich nicht. Später stellte sich auch heraus, es verging kein Tag, dass sich die Hausbewohner nicht beim Blockwart über Jenös Besuche beschwerten; sogar zur Kreis- leitung ist mal einer gelaufen. Weiß der Himmel, wie Vater das jedes Mal abbog; mir hat er nie was davon gesagt. Ammeisten hat sich Jenö aber doch für meine elek- trische Eisenbahn interessiert; jedes Mal, wenn wir mit ihr gespielt hatten, fehlte ein Waggon mehr. Als er dann aber auch an die Schienenteile, die Schran- ken und die Signallampen ging, fragte ich doch mal Vater um Rat. „Lass nur“, sagte er, kriegst eine neue, wenn Geld da ist.“ 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 59 Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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