sprachreif - Deutsch Oberstufe, Schülerbuch

2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Das Thema „Fremdheit und Anderssein“ in der Literatur Eine Kurzgeschichte lesen und analysieren Die Handlung der folgenden Kurzgeschichte ist in der Zeit des Dritten Reiches (des Nationalsozialismus) angesiedelt. Zu dieser Zeit (in Deutschland 1933 bis 1945 und in Österreich 1938 bis 1945) wurden Menschen, die nicht dem rassistischen Idealbild des Regimes entsprachen, verfolgt und zu einem großen Teil in Konzentrationslagern ermordet. Der in diesem Text vorkommende Ausdruck „Zigeuner“ für Angehörige der Bevölkerungsgruppe in Europa, die größtenteils aus Sinti und Roma besteht, war auch in den 1950er Jahren noch gebräuchlich. Er wird heute allerdings als abwertend bzw. rassistisch eingestuft. In Österreich sind Roma seit 1993 als Volksgrup- pe gesetzlich anerkannt. A32 Informieren Sie sich im Internet (z. B. bei Wikipedia) über die Begriffe „Zigeuner“, „Porajmos“ und „Antiziganismus“. A33 Arbeiten Sie in einem Clustering auf Basis Ihrer Recherche Gründe heraus, warum diese Bevölke- rungsgruppe als fremd/anders wahrgenommen wurde. A34 Lesen Sie die folgende Kurzgeschichte und klären Sie anschließend die Begriffe in A35. Wolfdietrich Schnurre: Jenö war mein Freund Als ich Jenö kennen lernte, war ich neun; ich las Edgar Wallace und Conan Doyle, war eben sitzen- geblieben und züchtete Meerschweinchen. Jenö traf ich zum ersten Mal auf dem Stadion am Faulen See beim Grasrupfen; er lag unter einem Holunder und sah in den Himmel. Weiter hinten spielten sie Fuß- ball und schrien manchmal „Tooooor!“ Ich tat erst, als sähe ich ihn nicht, und rupfte um ihn herum; aber dann drehte er doch ein bisschen den Kopf zu mir hin und blinzelte schläfrig und fragte, ich hätte wohl Pferde. „Nee“, sagte ich, „Meerschweinchen“. Er schob sich den Grashalm in den anderen Mund- winkel und spuckte aus. „Schmecken nicht schlecht.“ Ich ess sie nicht“, sagte ich; „dazu sind sie zu nett“. „Igel“, sagte Jenö und gähnte, „die schme- cken auch nicht schlecht.“ Ich setzte mich zu ihm. „Igel?“ „Tooooooor!“ Jenö sah wieder blinzelnd in den Himmel. Ob ich Tabak hätte. „Hör mal“, sagte ich; „ich bin doch erst neun.“ „Na und“, sagte Jenö; „ich bin acht“. Wir schwiegen und fingen an, uns leiden zu mögen. Dann musste ich gehen. Doch bevor wir uns trennten, machten wir aus, uns möglichst bald wiederzutreffen. Vater hatte Bedenken, als ich ihm von Jenö erzähl- te. „Versteh mich recht“, sagte er, „ich hab nichts gegen Zigeuner; bloß …“ „Bloß?“ „Die Leute“, sagte Vater und seufzte. Er nagte eine Weile an seinen Schnurrbartenden he- rum. „Unsinn“, sagte er plötzlich, „schließlich bist du jetzt alt genug, um dir deine Bekannten selbst auszusuchen. Kannst ihn ja mal zum Kaffee mit herbringen.“ Das tat ich dann auch. Wir tranken Kaffee und ha- ben Kuchen zusammen gegessen, und Vater hielt sich auch wirklich hervorragend. Obwohl Jenö wie ein Wiedehopf roch und sich auch sonst ziemlich seltsam benahm, Vater ging drüber weg. Ja, er machte ihm sogar ein Katapult aus echtem Vier- kantgummi und sah sich obendrein noch alle unse- re neu erworbenen Konversationslexikonbände mit uns an. Als Jenö weg war, fehlte das Barometer über dem Schreibtisch. Ich war sehr bestürzt; Vater gar nicht so sehr. „Sie haben andere Sitten als wir“, sagte er; „es hat ihm eben gefallen. Außerdem hat es sowieso nicht mehr viel getaugt.“ „Und was ist“, fragte ich, „wenn er es jetzt nicht mehr rausrückt?“ „Gott“, sagte Vater, „früher ist man auch ohne Baro- meter ausgekommen.“ Ó 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 58 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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