sprachreif - Deutsch Oberstufe, Schülerbuch

Schreibstile österreichischer Autorinnen und Autoren vergleichen A10 Vergleichen Sie die untenstehenden Leseproben österreichischer Autorinnen und Autoren und versuchen Sie jeweils, das Besondere, das Kreative in Sprache und Ausdruck festzumachen. Barbara Frischmuth: Machtnix oder Der Lauf, den die Welt nahm Der Krieg war zu Kräften gekommen und mischte sich andauernd ein. Er kam überall hin und konnte jede beliebte Gestalt annehmen. Das Mädchen hat- te er aus seinem Haus vertrieben, aus seiner Stadt und aus seinem Land. Er stank Tag und Nacht durch die Gegend. Gerade hatte er wieder einen großen Haufen hingesetzt, und als das Mädchen näher kam, waren es lauter tote Frösche. „Sei kein Frosch“, rief der Bursche, dem das Mädchen schon im Lager begegnet war, „sonst muss ich dich auch aufspießen!“ Das Mädchen schob die Unterlippe vor. „Macht nix!“ Der Krieg zerplatzte beinahe vor Wut, und der Bursche näherte sich mit seinem höl- zernen Spieß. Damit schlug er dem Mädchen auf die Knie. […] QUELLE: Frischmuth, Barbara: Machtnix oder Der Lauf, den die Welt nahm. Salzburg – Wien: Residenz Verlag, 2018, S. 9. Diese fantasievolle Geschichte mit einem Kind als Protagonistin war bereits 1993 unter dem Eindruck des jugoslawischen Bürgerkriegs entstanden, wurde aber erst 2018 veröffentlicht. Ingeborg Bachmann: Malina Wenn ich nun, aus irgendeinem Grund, vor zwei Jahren nicht in die Ungargasse gezogen wäre, […] dann würde es mit mir noch einen beliebigen Ver- lauf nehmen, und ich hätte das Wichtigste von der Welt nie erfahren: dass alles, was mir erreichbar ist, das Telefon, Hörer und Schnur, das Brot und die Butter und die Bücklinge, die ich für Montagabend aufhebe, weil Ivan sie am liebsten isst, oder die Ex- trawurst, die ich am liebsten esse, dass alles von der Marke Ivan ist, vom Haus Ivan. Auch die Schreib- maschine und der Staubsauger, die früher einen unerträglichen Lärm gemacht haben, müssen von dieser guten und mächtigen Firma aufgekauft und besänftigt worden sein, die Türen der Autos fallen nicht mehr mit einem Krach unter meinen Fens- tern zu, und in die Obhut Ivans muss unversehens sogar die Natur gekommen sein, denn die Vögel singen am Morgen leiser und lassen einen zweiten, kurzen Schlaf zu. Aber noch sehr viel mehr ge- schieht seit dieser Besitzübernahme, und es kommt mir seltsam vor, dass die Medizin, die sich für eine Wissenschaft und eine rapid fortschreitende hält, nichts von diesem Vorkommnis weiß: dass hier, in diesem Umkreis, wo ich bin, der Schmerz im Ab- nehmen ist, zwischen der Ungargasse 6 und 9, dass die Unglücke weniger werden, der Krebs und der Tumor, das Asthma und der Infarkt, die Fieber, In- fektionen und Zusammenbrüche, sogar die Kopf- schmerzen und die Wetterfühligkeit sind abge- schwächt, und ich frage mich, ob es nicht meine Pflicht sei, die Wissenschaftler zu informieren von diesem einfachen Mittel, damit die Forschung ei- nen großen Sprung vorwärts tun könnte, die meint, alle Übel mit immer raffinierteren Medikamenten und Behandlungen bekämpfen zu können. Hier ist auch die zitternde Nervosität, die Hochspannung, die über dieser Stadt ist, […] fast beruhigt. […] QUELLE: Bachmann, Ingeborg: Malina. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 27f. „Ein Liebesroman, der vollkommen verzichtet auf die winzigste erotische Gewagtheit … In einer Sprache, die sich den direkten, großen Gefühlen zu stellen sucht. Ein aufregendes, schönes, antimodisches Buch. Poetisch im Sammeln menschlicher Möglichkeiten“ (Joachim Kaiser, Süddeutsche Zeitung ) 166 6 2 4 6 8 10 12 14 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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