sprachreif - Deutsch Oberstufe, Schülerbuch

meine Frau und ich – die größten Befürchtungen haben. Er winkt, und keiner winkt zurück, man kann die Reisenden natürlich nicht dazu zwingen, und es wäre absurd und lächerlich, eine diesbezüg- liche Vorschrift zu erlassen, aber…“ „Und Sie, Herr Schwamm, wollen nun das Elend Ihres Jungen auf- saugen, indem Sie morgen den Frühzug nehmen, um dem Kleinen zu winken?“ „Ja“, sagte Schwamm, „ja.“ „Mich“, sagte der Fremde, „gehen Kinder nichts an. Ich hasse sie und weiche ihnen aus, denn ihretwegen habe ich – wenn man’s genau nimmt – meine Frau verloren. Sie starb bei der Geburt.“ „Das tut mir leid“, sagte Schwamm und stützte sich im Bett auf. Der andere fragte: „Sie fahren nach Kurzbach, nicht wahr?“ – „Ja.“ „Und Ihnen kom- men keine Bedenken bei Ihrem Vorhaben? Offener gesagt: Sie schämen sich nicht, Ihren Jungen zu be- trügen? Denn, was Sie vorhaben, Sie müssen es zu- geben, ist doch ein glatter Betrug, eine Hinterge- hung.“ Schwamm sagte aufgebracht: „Was erlauben Sie sich, ich bitte Sie, wie kommen Sie dazu!“ Er ließ sich fallen, zog die Decke über den Kopf, lag eine Weile überlegend da und schlief dann ein. Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, dass er allein im Zimmer war. Er blickte auf die Uhr und erschrak: bis zum Morgenzug bleiben ihm noch fünf Minuten, es war ausgeschlossen, dass er ihn noch erreichte. Am Nachmittag – er konnte es sich nicht leisten, noch eine Nacht in der Stadt zu bleiben – kam er niedergeschlagen und enttäuscht zu Hause an. Sein Junge öffnete ihm die Tür, glück- lich, außer sich vor Freude. Er warf sich ihm entge- gen und hämmerte mit den Fäusten gegen seinen Schenkel und rief: „Einer hat gewinkt, einer hat ganz lange gewinkt.“ „Mit einer Krücke?“, fragte Schwamm. „Ja, mit einem Stock. Und zuletzt hat er sein Taschentuch an den Stock gebunden und es so lange aus dem Fenster gehalten, bis ich es nicht mehr sehen konnte.“ QUELLE: Lenz, Siegfried: Die Nacht im Hotel. In: Klassische Deutsche Kurzgeschichten. Stuttgart: Reclam, 2003, S. 69–74.. A32 Setzen Sie sich kritisch mit der Kurzgeschichte auseinander, indem Sie selbst einen fiktionalen Text verfassen. Wählen Sie eine der folgenden Aufgabenstellungen: • • Schreiben Sie einen inneren Monolog aus der Sicht des Unbekannten, der sich auf den Weg zum Morgenzug macht. Welche Gedanken macht sich der Mann mit der Krücke über das Gespräch mit dem Vater? Wie denkt er über dessen Vorhaben nach? Und was bewegt den Mann schließlich dazu, den Jungen nicht nur kurz zu grüßen, sondern ihm auch aus weiter Entfernung zuzuwinken? • • Dem Vater des (un)glücklichen Sohnes lässt die Begegnung mit dem Unbekannten keine Ruhe. Über das Hotel erhält er schließlich die Adresse des Mannes. Er beschließt, diesen aufzusuchen und sich bei ihm zu bedanken. Auf dem Weg zu dessen Wohnhaus fallen dem Vater immer mehr Fragen an den Mann ein, über den er in der Hotelnacht kaum etwas in Erfahrung bringen konnte. Auch, dass ihm der Unbekannte unterstellte, seinen Sohn mit dieser Tat zu belügen, will ihn nicht ganz loslassen. Beschreiben Sie die Begegnung zwischen Herrn Schramm und dem Unbekannten in Form einer kurzen Geschichte . INFOBOX Siegfried Lenz (1926–2014) war als deutscher Soldat in englischer Gefangenschaft. Nach seiner Rückkehr studier- te er Philosophie, Anglistik und Deutsche Literaturgeschichte. Lenz übt in seinen Werken Gesellschaftskritik und verarbeitet seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Die Nacht im Hotel verfasste der Autor 1946. TIPP: INNERER MONOLOG Kurz gesagt: Einen inneren Monolog zu schreiben, bedeutet ein Gedankengespräch zu verschriftlichen. Um schnellstmöglich viel über den Schreibstil eines inneren Monologes zu erfahren, schauen Sie sich (falls notwen- dig) das Lernvideo online an. Ó cz65r8 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 147 Literarische Bildung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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