sprachreif - Deutsch Oberstufe, Schülerbuch

Vaterfiguren in der Literatur untersuchen A31 Lesen Sie die Kurzgeschichte Die Nacht im Hotel von Siegfried Lenz und begründen Sie, warum es sich bei dem Beispiel um einen fiktionalen Text handelt. Siegfried Lenz: Die Nacht im Hotel Der Nachtportier strich mit seinen abgebissenen Fingerkuppen über ein Heft, hob bedauernd die Schultern und drehte seinen Körper zur linken Sei- te, wobei sich der Stoff seiner Uniform gefährlich unter dem Arm spannte. „Das ist die einzige Mög- lichkeit“, sagte er. „Zu so später Stunde werden Sie nirgendwo ein Einzelzimmer bekommen. Es steht Ihnen natürlich frei, in anderen Hotels nachzufra- gen. Aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass wir, wenn Sie ergebnislos zurückkommen, nicht mehr in der Lage sein werden, Ihnen zu dienen. Denn das freie Bett in dem Doppelzimmer, das Sie – ich weiß nicht aus welchen Gründen – nicht neh- men wollen, wird dann auch einen Müden gefun- den haben.“ „Gut“, sagte Schwamm, „ich werde das Bett nehmen. Nur, wie Sie vielleicht verstehen wer- den, möchte ich wissen, mit wem ich das Zimmer zu teilen habe; nicht aus Vorsicht, gewiss nicht, denn ich habe nichts zu fürchten. Ist mein Zim- mergenosse denn schon da?“ „Ja, er ist da und schläft.“ „Er schläft“, wiederholte Schwamm […]. Unwillkürlich verlangsamte Schwamm, als er die Zimmertür mit der ihm genannten Zahl erblickte, seine Schritte, hielt den Atem an und beugte sich zum Schlüsselloch hinab. Das Zimmer war dunkel. Schwamm drückte die Klinke herab. Er schloss die Tür wieder und tastete mit flacher Hand nach dem Lichtschalter. Da hielt er plötzlich inne: neben ihm sagte jemand mit einer dunklen, aber auch energi- schen Stimme: „Halt! Bitte machen Sie kein Licht. Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie das Zimmer 20 dunkel ließen.“ „Haben Sie auf mich gewartet?“, fragte Schwamm erschrocken; doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen sagte der Frem- de: „Stolpern Sie nicht über meine Krücken, und seien Sie vorsichtig, dass Sie nicht über meinen Koffer fallen, der ungefähr in der Mitte des Zim- mers steht. Ich werde Sie sicher zu Ihrem Bett diri- gieren: Gehen Sie drei Schritte an der Wand ent- lang, und dann wenden Sie sich nach links, und wenn Sie wiederum drei Schritte getan haben, wer- den Sie den Bettpfosten berühren können.“ Schwamm gehorchte; er erreichte sein Bett, entklei- dete sich und schlüpfte unter die Decke. Er hörte die Atemzüge des anderen und spürte, dass er vor- erst nicht würde einschlafen können. „Übrigens“, sagte er zögernd nach einer Weile, „mein Name ist Schwamm.“ „So“, sagte der andere. – „Ja.“ „Sind Sie zu einem Kongress hierhergekommen?“ – „Nein, und Sie?“ – „Nein.“ – „Geschäftlich?“ „Nein, das kann man nicht sagen.“ „Wahrscheinlich habe ich den merkwürdigsten Grund, den je ein Mensch hatte, um in die Stadt zu fahren“, sagte Schwamm. „Ich habe einen Sohn, Herr … (der andere nannte nicht seinen Namen), einen kleinen Lausejungen, und seinetwegen bin ich hierher gefahren.“ „Ist er im Krankenhaus?“ „Wieso denn? Er ist gesund, ein wenig bleich zwar […] aber sonst sehr gesund. Ich wollte Ihnen sagen, warum ich hier bin, hier bei Ih- nen, in diesem Zimmer. Wie ich schon sagte, hängt das mit meinem Jungen zusammen. Er ist äußerst sensibel, mimosenhaft, er reagiert bereits, wenn ein Schatten auf ihn fällt.“ „Also ist er doch im Kran- kenhaus.“ „Nein“, rief Schwamm, „ich sagte schon, dass er gesund ist, in jeder Hinsicht. Aber er ist ge- fährdet, dieser kleine Bengel hat eine Glasseele, und darum ist er bedroht.“ „Was bedroht ihn denn?“, fragte der andere. „Mein Junge ist aus folgendem Grunde gefährdet: Jeden Morgen, wenn er zur Schule geht […] jeden Morgen muss er vor einer Bahnschranke stehen bleiben und warten, bis der Frühzug vorbei ist. Er steht dann da, der kleine Kerl, und winkt, winkt heftig und freundlich und verzweifelt.“ – „Ja und?“ „Dann“, sagte Schwamm, „dann geht er in die Schule, und wenn er nach Hause kommt, ist er verstört und benommen, und manchmal heult er auch. […] Der Junge geht mir kaputt dabei!“ „Was veranlasst ihn denn zu solchem Verhalten?“ „Sehen Sie“, sagte Schwamm, „das ist merkwürdig: Der Junge winkt, und – wie er traurig sieht – es winkt ihm keiner der Reisenden zurück. Und das nimmt er sich so zu Herzen, dass wir – 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 146 5 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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