sprachreif - Deutsch Oberstufe, Schülerbuch

Am nächsten Morgen saß sie am großen Tisch im Esszimmer und rührte Gerstenmehl in ihren Tee. „Morgen, Schätzchen“, sagte sie, als ich hereinkam, „ist es nicht längst Zeit für die Schule?“ „Wir haben Ferien“, sagte ich. Ich begann im Esszimmer her- umzulaufen und ihre Sachen aufzusammeln, die sie in der Nacht einfach überall hingeschmissen hatte. Matschverkrustete Goretex-Klamotten, Alutöpfe mit angetrockneten Gerstenbreiresten, ein Spezial- kocher, die Fotoausrüstung und ihre stinkenden Bergschuhe waren über das ganze Zimmer verteilt. Immerhin hatte sie es noch geschafft, ihren Schlafsack draußen über das Verandageländer zu hängen. Er war bestimmt voller Läuse. Ich schleppte alles hinaus auf die Veranda. Nur mit dem Kochgeschirr lief ich ins Badezimmer. Ich stellte es in die Wanne und ließ heißes Wasser dar- über laufen. „Setz dich hin“, sagte Mama, als ich zurück ins Esszimmer kam. Sie zeigte auf den Stuhl neben sich. „Hast du etwas mitgebracht, wovon ich wissen sollte?“, fragte ich und setzte mich ans ent- gegengesetzte Ende des Tisches. „Läuse, Krätze, Ruhr, Dengue-Fieber?“ „Ich glaube nicht“, sagte Mama. „Nur Blasen an den Füßen.“ Ich rückte ein paar Stühle weiter vor. Ich trank meinen Kakao und sah zu, wie sie ihren Tee schlürfte. Sie hatte einen Klumpen Yakbutter in einer schmierigen Plastiktü- te vor sich liegen. Davon drehte sie mit den Fingern kleine Stückchen ab, warf sie in den Tee und rührte um, bevor sie den Tee trank. „Mama“, sagte ich schließlich, „wir müssen dir die Haare waschen!“ Während ich fast eine ganze Flasche Pfirsichöl-Pfle- gespülung in ihre verfilzte Matte einmassierte, er- zählte Mama ungefragt von Steinschlägen am An- napurna, Überschwemmungen im Rolwalingtal und Schneestürmen in Solo Khumbu. Sie erzählte von den Wäldern Osttibets, wo es Blutegel regnet, von chinesischen Dorfgefängnissen und betrunke- nen Polizisten, von Bussen, die in tiefen Schluchten zerschellen, und von den schwarzgefrorenen Ge- sichtern der Bergsteiger, die in den verrotteten Ab- steigen von Lukla im Everest-Gebiet auf ihren Rückflug nach Kathmandu warten. Sie erzählte da- von, wie ihr Gehirn aufweichte, als sie versuchte, den Pumori zu besteigen, und von der dünnen Luft des Himalaja, die das Blut träge macht und an der sich die Lungen wundatmen. Zwei Stunden später hatte ich den letzten Knoten aus ihren Haaren gekämmt und alle Blasen an ihren Füßen aufgestochen und desinfiziert. Dann war Mama wieder so müde, dass sie sich aufs Sofa legte und sofort einschlief. Das Telefon klingelte. Es war Arne von Trekking Guides. „Hallo“, sagte Arne. „Ist sie da?“ „Sie schläft“, sagte ich, „und will nicht ge- stört werden. Schon gar nicht von euch.“ „Sie soll nicht so viel schlafen, lieber schreiben“, sagte Arne. Ich legte einfach auf. […] QUELLE: Schwerdtfeger, Malin: Mein erster Achttausender. In: Leichte Mädchen. Erzählungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001, S. 9–16. A29 Untersuchen Sie die im Text beschriebene Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Wie geht die Tochter mit der Mutter um? Was fällt Ihnen auf? Unterstreichen Sie Textstellen mit wichtigen Infor- mationen. Besprechen Sie relevante Details in der Klasse. A30 Diese Kurzgeschichte behandelt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dieser Text handelt von einer arbeitenden, abwesenden Mutter. Über den Vater wird in diesem Textausschnitt kein Wort verloren. Wählen Sie einen der folgenden Schreibaufträge : • • Versuchen Sie die Mutter genauer zu charakterisieren und erstellen Sie eine Art Lebenslauf (CV), in dem Sie den Karriereweg der Reisefotografin und Reiseautorin kurz skizzieren. • • Überlegen Sie sich, welche Rolle der Vater des erzählenden Mädchens im Text einnehmen könnte, und beschreiben Sie ein Telefongespräch zwischen Tochter und Vater in Form eines Dialogs . 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 145 Literarische Bildung Nur zu Pr fzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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