sprachreif - Deutsch Oberstufe, Schülerbuch

18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 Die Erwachsenen lassen sich das nicht immer bie- ten. Im antiken Sparta etwa wurde jede jugendliche Herausforderung von vornherein unterbunden. Mit sieben Jahren verließen junge Spartaner ihre Fami- lien, um Gehorsam, Selbstkontrolle und Kollektiv- bewusstsein eingebläut zu bekommen, Werte, die mit der statischen, auf Beharrung ausgerichteten Gesellschaft Spartas harmonierten. Beliebt war der Brauch, Jugendliche zur Abhärtung öffentlich züch- tigen zu lassen. Angefeuert von den Eltern, trotz der Schläge nicht in die Knie zu gehen, sank mancher von ihnen, vollendet angepasst an das System, dem Tod in die Arme. Schon Platon klagte über respektlose Schüler In Spartas Konkurrenzmetropole Athen war hinge- gen das Sozialgefüge lockerer, die Erziehung weni- ger straff und überwiegend privat. Wichtigen Ein- fluss übten die Sophisten. Sie lösten mit ihrem Glauben an den Intellekt die Jugend aus den Fesseln der alten, auf körperlicher Disziplin und Vorbildern beruhenden Erziehung und sprachen den Einzel- nen als selbstbestimmtes Individuum an, nicht als Glied der Gemeinschaft. Dass die Athener Jugend diese Freiräume nutzt, bezeugt Sokrates’ Beschwer- de in Platons Staat, Söhne hätten keinen Respekt mehr vor ihren Vätern und Schüler nicht mehr vor den Lehrern. Aristoteles nennt die Jugend heftig, aufbrausend, schwankend und maßlos in all ihrem Tun. […] Das Mittelalter hingegen, mit seiner bäuer- lich-adligen Lebensform, kannte das Problem der Jugend nicht – weil sie von ihr selbst nichts wusste. So argumentiert der Historiker Philippe Ariès in Geschichte der Kindheit: Im Unterschied zu den Griechen, die jene Übergangsphase mit der paideia, der Erziehung, definierten, und ihr einen eigenen Bereich, geistig wie räumlich, zuwiesen, hatte das Mittelalter von der Jugend keinen Begriff. Kinder im zarten Alter von sieben Jahren nahmen übergangslos ihren Platz an der Seite von Erwach- senen ein: kleideten sich wie sie und teilten deren Arbeit und Vergnügungen. Zwar unterlagen sie noch lange der elterlichen Gewalt, oft bis zum 30. Lebensjahr, bis sie Haus und Gewerbe übernahmen und heirateten. Aber die Jugend reifte dabei so selbstverständlich im Kreis der Älteren, wie diese verwelkten; unter einem Dach, in einem tätigen Miteinander, das jegliche Absonderung – Privat- heit, Intimität und Individualität – nahezu unmög- lich machte. Erstaunlicherweise erreichte das Mittelalter eine reibungslose Anpassung der Jugend ans Bestehen- de; statt über Zucht und Zwang mittels einer so na- türlichen wie nachlässigen Integration. Man nahm die Jugend nicht an die Hand, sondern erwartete, dass sie sich selbst zurechtfinde. Erst mit der Neu- zeit, in der auch der alte Erziehungsgedanke eine Renaissance erfuhr, verschwand dieses Modell. Ariès zufolge setzte eine stetige Moralisierung der Gesellschaft ein, in deren Zuge auch die Unreife des Kinds erkannt wurde. Die Familie – bis dahin eine reine Institution zur Weitergabe von Namen und Habe – mutierte zur moralischen Anstalt: Sie bilde- te sich, als Kern- und Kleinfamilie, um das Kind, um dessen körperliche und geistige Bildung. Wo die Familie ihrer Aufgabe nicht nachkommen konnte, entstanden Schulen: die staatliche Institution als ein Substitut der Familie. Was sich wie Fortschritt anhört, schildert Ariès als Katastrophe: Das vormals freie Kind wird aus der reichen Erwachsenenwelt herausgerissen und ver- bannt in nüchterne Lerngettos; das wiederum be- schert ihm die Zuchtrute und den Karzer, Diszipli- nierungsmaßnahmen, die man zuvor in den Gefängnissen eingeübt hatte. Das Ergebnis aber hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Situation im alten Athen. Jugend wird erneut als Entwicklung begriffen, die der lenkenden Hand des Erwachse- nen bedarf. […] QUELLE: http://www.zeit.de/2008/36/Jugend-Beist-ck ; (abgerufen am 23.04.2020) 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 INFOBOX Barack Obama: (*1961), 44. Präsident der USA (2009–2017), erster afroamerikanischer US-Präsident Joschka (Joseph) Fischer: (*1948), ehem. dt. Außen­ minister u. Vizekanzler (1998–2005) Sophist: Wanderlehrer im antiken Athen, Schwer- punkt der Lehre war die Rhetorik Sokrates, Platon, Aristoteles: antike Philosophen Philippe Ariès: (1914–1986), französischer Historiker eine Renaissance erfahren: wieder modern werden mutieren: sich verändern Substitut: Ersatz Karzer: Gefängnis; früher auch: Arrestraum einer Universität oder eines Gymnasiums 109 Schriftliche Kompetenz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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