Texte verstehen: Ist das wirklich wahr? Der Basilisk Eines Morgens im Juni des Jahres 1212 wollte Kathi, die Magd des jähzornigen Bäckers Garhibl aus der Schönlaterngasse 7 in Wien, Wasser aus dem hauseigenen Brunnen holen. Als sie den Brunnen abdeckte, schlug ihr ein widerlicher Gestank entgegen und sie bemerkte ein unheimliches Glitzern in der Tiefe. Entsetzt schrie sie um Hilfe. Der jähzornige Bäcker Garhibl hielt seine Magd für hysterisch, musste aber zugeben, dass auch er den Gestank bemerkt hatte. „Ich schau nach“, meinte der übermütige Geselle Heinrich, griff sich eine Pechfackel und stieg, an ein Seil gebunden, in den Brunnen hinab. Bereits nach kurzer Zeit schrie er gellend und konnte gerade noch halb tot heraufgezogen werden. „Ein Untier“, stammelte er. „Scheußlich! Den Kopf vom Hahn, den Leib von der Kröte, den Schwanz – soooo lang und schuppig – und es trägt eine Krone mit leuchtend roten Edelsteinen … Und es stinkt!“ Die Leute standen beisammen und rätselten. Da trat ein Gelehrter vor. „Da unten sitzt ein Basilisk“, erklärte er. „Wenn ein Hahn ein Ei legt“, sprach der Mann weiter, „und das Ei von einer Kröte ausgebrütet und das Junge dann von einer Schlange aufgezogen wird, dann entsteht dieses Untier. Sein Atem stinkt nach Verwesung und sein Anblick ist abgrundtief hässlich. Wer es ansieht, ist dem Tod geweiht. Kein Speer, kein Schwert, keine Lanze, ja nicht einmal Feuer können dem Basilisken etwas anhaben.“ „Gibt es nicht irgendetwas, was das Untier vernichtet?“, fragte Meister Garhibl, der sich schon gezwungen sah, Haus, Hof und Bäckerei aufzugeben. „Doch, doch!“, antwortete der Gelehrte. „Einer muss sich hinunterwagen und dem Tier einen Spiegel vorhalten, auf dass es beim Anblick seiner eigenen Hässlichkeit zerplatze.“ Lange herrschte Totenstille. „Ich probier’s!“, rief endlich der mutige Geselle Hans. Schnell wurde der Wandspiegel des Bäckermeisters aus der Stube geholt, Hans wurde an das Seil gebunden und in den unheimlichen Brunnen gelassen. Den Spiegel hielt er vor sich wie einen Schild. Plötzlich ein grauenvoller Schrei – ausgestoßen vom Basilisken, der sich zum ersten Mal selbst sah. Dann ein ohrenbetäubender Knall! Alle hielten den Gesellen für tot. Der aber stieg wohlbehalten aus dem Brunnen und das Untier lag zerrissen im faulen Wasser. Es war aus Wut über sein scheußliches Aussehen zerplatzt. Hans erhielt zum Dank die Bäckerstochter Agathe zur Frau, die er schon lange ins Herz geschlossen hatte. Der Brunnen wurde zugeschüttet und das Haus „Basiliskenhaus“ genannt. Zur Erinnerung wurde eine Gedenktafel mit dem Basilisken aufgestellt. 1 5 10 15 20 25 30 35 Tipp Gellend bedeutet schrill und durchdringend. 72 Sagenumwobene Vergangenheit Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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