Quer durch Tirol, Leseheft

6 Sagenhaftes Kaiser Maximilian war ein gewitzter und guter Jäger, der auf seinen Jagdzügen immer wieder große Gefahren bestand. Doch einmal geriet der Kaiser auf der Gämsenjagd bei Zirl in echte Todesnot. Maximilian hatte eine herrliche Gams erblickt und verfolgte sie bis in die steilen, felsigen Flanken der Martinswand. Höher und höher kletterte der Kaiser, nichts anderes als das verlockendeWild vor Augen. Doch plötzlich war die Gams mit einemhals­ brecherischen Satz aus seinem Gesichtsfeld verschwunden und Maximilian bemerkte entsetzt, dass er von seinem Standplatz aus weder vor noch zurück konnte: Über ihm hingen drohend die Felsen, unter ihmgähnte die schaurige Tiefe und links und rechts war kein Weg oder Tritt. Weder von oben mit einem Seil noch von unten mit Leitern war Hilfe zu erwarten. Er war ganz und gar in die Irre gegangen. Zwei ganze Tage und Nächte wartete Maximilian auf Rettung, dann schloss er traurig und verzweifelt mit seinem Leben ab: „Ich sehe wohl Kaiser Maximilian in der Martinswand ein, dass mir nicht geholfen werden kann. Vor mir steht der sichere Tod. Könnte ich doch noch die Sterbesakramente 1 empfan­ gen – oder sie wenigstens sehen!“ Diese Bitte schrie er nach unten, an den Fuß derMartinswand, wo sich unterdessen nicht nur sein Hofstaat 2 , sondern auch eine große MengeVolk versammelt hatten, um für ihren geliebten Kaiser zu beten. Am dritten Tag hörte der erschöpfte Maxi­ milian plötzlich ein Geräusch hinter sich. Erstaunt sah er einen jungen Mann in Bauernkleidern, der sich geschickt einen Weg über den Fels bahnte. Der Jüngling kamheran, nahmden Kaiser an der Hand und sagte: „Keine Angst, gnädiger Herr. Gott lebt noch und will euch retten. Folgt mir nur und fürchtet euch nicht!“ Da stieg Maximilian vertrauensvoll seinem jungen Führer nach, der ihm immer die richtigen Griffe und Tritte wies. Schon bald kamen sie an einen schmalen Pfad, der sie sicher nach unten führte. Man kann sich vorstellen, mit welcher Freude der Kaiser empfangen wurde! Doch als Maximilian sich nach seinem tapferen Retter umsah, um ihm zu danken, war dieser wie vom Erdboden verschwun­ den. Bald erzählte man, dieser Bauernbursch sei inWahrheit ein Engel Gottes gewesen. 5 10 15 20 30 35 40 45 50 55 25 1  Sterbesakramente: Buße, Eucharistie und Krankensalbung für gläubige Sterbende 2  Hofstaat: Personen, die dem Regenten immer nahe sind Maximilian in der Martinswand Gämse Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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