Quer durch Tirol, Leseheft

16 Vergangene Zeiten Die Auswanderer Liebe Schwester, durch einen glücklichen Zufall habe ich heute unseren Nachbarn Martin Pergler getroffen, gerade als er durch die Straßen von Augsburg zog, um seine Wolldecken, die die Bauern im Defereg- gental herstellten, feilzubieten. Er wird bald nach Defereggen zurückkehren. Deshalb gebe ich ihm diesen Brief mit. Verbrenne das Schreiben, sobald du es gelesen hast! Nun sind vier Monate vergangen, seit meine Frau und ich unsere geliebte Elisabeth bei dir zurücklassen mussten. Unser einziger Trost ist, dass wir sie in deiner Obhut wissen. Die Sehnsucht nach der Heimat und unserer Familie ist groß. Aber ich wollte, ich konnte meinem neuen Glauben nicht abschwören. Zu stark ist mein Zorn auf die Obrigkeit 2 , ihre Heuche­ leien, ihre Verschwendungssucht. Und Maria denkt wie ich. Wir sind dir unend- lich dankbar, dass du Elisabeth in dein Haus aufgenommen hast. Gott möge dir alles tausendmal vergelten. Ich verrate dir einen Plan, über den du zu niemandem einWort verlieren darfst. Nicht zu Elisabeth, nicht zu Leonhard, deinem Mann. Noch bedeckt tiefer Schnee Joche 3 und Übergänge. Aber in einigen Wochen, 1  Lutheraner: Christen, die ihre Glauben nach der Lehre Martin Luthers ausrichten 2  Obrigkeit: Oberherrschaft 3  Joche: Brückenpfeiler 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 Wie in anderen Tälern Tirols wandten sich im 16. und 17. Jahrhundert auch im Defereggental viele Menschen vom ka­ tholischen Glauben ab und dem neuen Glauben der Lutheraner 1 zu. Die zwei wichtigsten Gründe dafür waren die große Armut der Bevölkerung und die Missstände innerhalb der Kirche. Denn damals gab es Priester, Ordensleute und Bischöfe, die nach immer mehr Macht und Reichtum strebten und in Saus und Braus lebten, während die Menschen bittere Not litten. Viele glaubten mit der lutherischen Lehre zum Glauben der Urkirche zurückkehren zu können. Einer dieser Menschen war Thomas Veldner. Er weigerte sich, dem luthe­ rischen Glauben abzuschwören, und musste deshalb seine Heimat verlassen. Seine Frau Maria ging mit ihm, die kleine Tochter Elisabeth nicht. Alle Kinder, die jünger als vierzehn Jahre waren, wurden gewaltsam im Land zurückgehalten. Am 15. März 1684 schrieb er folgenden Brief an seine Schwester Therese: Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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