Quer durch die Steiermark, Leseheft

8 Sagenhaftes Die Törin hat große, runde Augen, die rot leuchten, wenn sie einen ansieht. Sie trägt immer ein weißes Gewand. Tagsüber kann man sie auf dem Heuboden antreffen. Wer ihr begegnet, soll nicht erschrecken, denn dann glaubt sie, dass man sich vor ihr grault, weil sie seltsame Füße hat. Sie sind verkehrt angesetzt. Die Törin hat die Fersen vorne und die Zehen hinten. Die Törin kann niemanden verwünschen, aber sie kann sehr boshaft sein. Wenn ihr jemand was zu Leide tut, sie auslacht oder beschimpft, rächt sie sich an der Hauskatze und zerrt sie amSchwanz, bis die jämmerlich schreit. Oder sie beißt den Hund, und dann sieht man die Spuren ihrer Zähne in seinem Fell. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie frisch gewaschene Wäsche in den Schmutz geworfen hat. Nachts, am liebsten bei Vollmond, schleicht die Törin zum Saggaubach oder an ein an­ deres Gewässer, wäscht dort emsig alle Die Törin wäscht ein Hemd Wäsche, die sie im Haus gefunden hat, schwemmt sie gründlich und hängt sie an Bäumen und Sträuchern zum Trocknen auf. Einmal war der Knecht vom Spindelweber auf demHeimweg, und als er zum Stammer­ egger Bach kam, hat er gesehen, wie dieTörin am Ufer kniete undWäsche schwemmte. Er konnte sich denken, wer sie war, denn wer sonst als die Törin schwemmt nachts bei Vollmond im BachWäsche! Unheimlich war ihm schon, denn sie wandte ihm den Rücken zu und er konnte ihre Füße sehen. Wie Schaufeln sahen sie aus, und er graulte sich wahrhaftig vor ihnen. „Ichmusswas zu ihr sagen“, dachte er. „Sonst merkt sie, dass ich mich vor ihren Füßen fürchte, weil sie so absonderlich sind.“ Aber es fiel ihm nichts anderes zu sagen ein, als was er zu jeder Bauernmagd gesagt hätte, die beim Wäschewaschen war: „Du, wasch mir mein Hemd auch gleich mit.“ 5 10 15 20 25 30 35 40 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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