Quer durch Oberösterreich, Leseheft

16 Vergangene Zeiten Es ist das Jahr 1923. Seit dem ersten Weltkrieg sind fünf Jahre vergangen. Jahre der Arbeitslosigkeit für Steyr, denn in der Fabrik, die Ingenieur Josef Werndl 1853 gegründet hatte, dürfen keine Kriegswaffen mehr erzeugt werden. In dieser Zeit war Steyr zu einer Stadt der Bettler geworden. Aber jetzt gibt es wieder neue Arbeits- plätze: In den Steyrer Werken werden Autos und Autobestandteile hergestellt. Man führte die Fließbandproduktion nach amerikanischem Vorbild ein und ist stolz auf den industriellen Fortschritt. Doch leicht ist das Leben einer Arbeiter­ familie nicht. Es gibt keine allgemeine Krankenversicherung und kein Kranken- geld. Die Kosten für Arzt und Behandlung müssen selbst getragen werden, und wer für längere Zeit erkrankt oder durch einen Arbeitsunfall zum Krüppel wird, verliert seine Stelle. „Aufstehen!“ Die Mutter rüttelt Hansi an der Schulter und will ihm die Tuchent 1 wegziehen. Hansi hält sie mit beiden Händen fest. Er kneift die Augen ganz fest zu und dreht sich zur Wand. Der Strohsack knistert. Es ist fünf Uhr früh, und Hansi möchte noch schlafen. Er beneidet seine kleine Schwester, weil sie bei der Mutter zu Hause bleiben darf. Er ist zwölf Jahre alt Werktags Arbeit, sonntags Schule und muss mit dem Vater zur Arbeit in die Autofabrik gehen, obwohl Kinder­ arbeit bis zum 14. Lebensjahr schon seit vierzig Jahren verboten ist. Die reichen Unternehmer brauchen billige Arbeitskräfte, sie beachten die staatlichen Schutzbestimmungen der Gewerbeordnung 2 nicht, nur an den Sonntagvormittagen dürfen die Kinder zur Schule gehen. Um halb sechs Uhr läutet die Fabriksglocke. Ein Arbeitstag dauert für Hansi zehn Stunden mit einer kurzen Mittagspause, für den Vater 14 Stunden. Sie arbeiten im Karosseriebau. Gähnend steigt Hansi aus dem Bett, er deckt die kleine Liesl mit der Tuchent zu. Sie nuckelt am Daumen und lächelt im Schlaf. Hansi schlüpft in seine einzige Hose und zieht das Hemd über den Kopf. In der Küche steht das Frühstück auf dem Tisch: eine Schüssel gekochte Erdäpfel und ein Krug Milch. Die Mutter ist wie jeden Tag schon eine Stunde früher aufgestanden, hat Feuer ge­ macht, den Kochtopf aufgesetzt und beim Bauern Milch geholt. Der Vater bläst auf die heißen Erdäpfel. Hansi stellt sich neben ihn und isst mit. Die Mutter macht ihm Platz, und für einen Augenblick lehnt sich Hansi an ihre Brust. Wie gern wäre er wieder so klein wie Liesl! Wie gern würde er der Mutter helfen, zum Beispiel am Waschtag, 1  Tuchent: Dicke Bettdecke, die mit Federn gefüllt ist 2  Gewerbeordnung: Gesetz Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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