Quer durch Niederösterreich, Leseheft
22 Märchenhaftes Auf einer Kreuzung mitten in der Land schaft, wo sich heute der Naturpark Föhren berge befindet, stand eine uralte, herrliche Föhre, schlank und kerzengerade imWuchs, hoch und majestätisch, sodass sie landauf und landab nur „die stolze Föhre“ genannt wurde. In ihremStamm, unbemerkt von den Menschen, wohnte eine wunderschöne Fee, die sich jeden Morgen in ein altes, gebrechliches Mütterlein verwandelte, am Wegesrand unter der Föhre saß und um ein Almosen bat. So wollte sie die Gesinnung der Vorübergehenden prüfen. Zu jener Zeit lebte nicht weit entfernt ein reicher und geiziger Bauer, der jeden Tag auf dem Weg zu seinem Feld mit einer jungen Magd, einer Vollwaise, an dem Baum vor beikam. Wohl sah er die bettelnde Alte dort sitzen, doch er würdigte sie keines Blickes. Die Magd jedoch konnte nicht an dem Mütterlein vorbeigehen, ohne ihr kärgliches Frühstücksbrot mit ihr zu teilen. Als der Bauer das bemerkte, ärgerte er sich derart, dass er der Magd fortan immer kleinere Stücke Brot herunterschnitt, bis sie eines Tages gar nichts mehr bekam, da sie auch das Wenige immer noch mit der Alten geteilt hatte. Eines Tages nun war der Bauer zu einer Hochzeit eingeladen. Solche Feste ließ er sich gerne gefallen, dann aß und trank er so viel er konnte, es kostete ihn ja nichts. Um Die stolze Föhre Mitternacht brachte er wahrlich nichtsmehr hinunter, sodass er sich auf den Rückweg machte. Langsam ging er voran, denn ein voller Bauch will seine Ruhe haben. Sein Heimweg führte ihn an der Föhre vorbei, aber – was war das? Anstelle des Baumes stand dort ein herrliches Schloss, aus dem lustigeMusik, Gesang und Gelächter hallten. Vorsichtig ging er näher, und weil ihn nie mand aufhielt, trat er keck ein. Die Fee der Föhre feierte ein prachtvolles Fest und unzählige Gäste tanzten vergnügt. Auf einmal stand die Fee vor dem Bauern, zog ihn zum Tanz, was er nicht verweigern konnte, und wirbelte mit ihm im Kreis herum, dass ihm Hören und Sehen verging. Geschafft! Endlich war der Tanz vorbei, und die Fee lud ihre Gäste zur reichlich gedeckten Tafel. Ui, der Bauer war gleich der Erste, der saß und ordentlich zugriff, als hätte er schon tagelang nichts mehr gegessen und getrun ken. Dabei ließ er hin und wieder die eine oder andere Speise in seine Taschen gleiten, bis diese wie Müllsäcke wegstanden. Als er beim besten Willen keinen Bissen oder Schluck mehr hinunterbrachte und auch all seine Taschen voll gefüllt waren, stand er auf und verließ das rauschende Fest ohne ein Wort des Dankes oder Abschieds. In der aufsteigenden Dämmerung torkelte er mehr nach Hause, als dass er ging, und weckte gleich den ganzen Hof auf. 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlag öbv
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