Quer durch Wien, Leseheft

8 Sagenhaftes Am 26. Juni des Jahres 1212, in aller Früh, wurde aus dem Haus des Bäckermeisters Garhibl in der Schönlaterngasse 7 ein so lautes Geschrei gehört, dass die Leute zu­ sammenliefen. Sogar der Stadtrichter kam angeritten. Auf seine Frage, was für ein Un­ glück denn geschehen sei, berichtete ihmder Bäckermeister aufgeregt, in seinemBrunnen im Hof sitze ein Ungeheuer und verbreite einen grässlichen Gestank. SeineMagd 1 habe es beim morgendlichen Wasserholen entdeckt und sei fast in Ohnmacht gefallen. „Sie soll’s Ihnen selber erzählen“, sagte der Bäckermeister. „Liesl, geh her und sag dem Herrn Stadtrichter, was du gesehen hast!“ „Einen Hahn mit einer Krone auf“, flüsterte die Magd. Der Stadtrichter gab sein Pferd einem zu halten, der grade dastand, und ging ins Haus, um selber in den Brunnen hinunterzuschauen. Die vielen Neugierigen, die sich inzwischen angesammelt hatten, drängten ihm nach. Und da sahen sie am Brunnenrand den jüngsten Bäckerburschen stehen. Er hatte ein Seil um den Leib gebun­ den und wollte hinuntergelassen werden. Der Basilisk in der Schönlaterngasse „Die Liesl fürchtet sich doch vor jedem Hühnerdreck“, sagte er. „Ich geh nach­ schauen, was das unten wirklich los ist! Lasst mich hinunter!“ Das taten sie. Nach wenigen Augenblicken aber hörten sie den Buben um Hilfe rufen und zogen ihn herauf, so schnell es ging. Er war totenbleich und wagte nicht die Augen aufzutun, bekam kaum Luft und konnte nicht reden. Sie brachten ihm zu trinken und endlich erzählte er: „Da sitzt wirklich was unten im Brunnen. Es schaut aus wie ein Hahn und eine Kröte zugleich, mit einer Krone auf demKopf. Es hat mich angeschaut, als wollt es michmit denAugen umbringen.“ „Beruhig dich“, sagte der Bäckermeister. „Der Herr Stadtrichter ist schon da. Der wird wissen, was man jetzt tun muss.“ „Erst einmal alle weg vom Brunnen!“, sagte der Stadtrichter. „Nach dem, was der Bub gesehen hat, kann ich nur sagen: Da unten sitzt ein Basilisk 2 . Den muss man unschäd­ lich machen. Mit Steinen und Erde muss man ihn zuschütten. Dann erstickt er. Denn wenn er am Leben bleibt, bedeutet das Todesgefahr für alle Umwohner.“ 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=