Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
91 Barock (1600–1720) Initiatoren der Überpinselung mag missfallen haben, dass hier Straßen, Blumen und Frauen wie Inventar- stücke aneinandergereiht werden. Auch dass die drei Substantive wie Gattungsbezeichungen daherkom- men: nichts Besonderes, nichts Spezifisches – Stra- ßen, Blumen und Frauen gibt es überall. Weiter: In eine Reihe mit Straßen und Blumen gestellt, werden Frauen zu Objekten und verniedlicht. Und das stärks- te Argument könnte lauten: Die ganze Heimtücke des Gedichts springt in der letzten Zeile hervor, die ge- wissermaßen den sexistischen Kater aus dem Sack lässt. Denn nun werde mit der Schlusswendung „ein Bewunderer“ schlagartig klar, dass alle die namenlo- sen Straßen, Blumen und Frauen nur Material für wohlgefällige männliche Blicke sind: ein bestimmter Mann und eine unbestimmte Zahl von Frauen. Aktiv ist allein der Mann, blumengleich sind die Frauen passive Betrachtungsgegenstände. Doch es ist von unsäglicher Einfalt, auf diese Wei- se mit einem Gedicht umzugehen, so als sei es eine Meinungsäußerung, die man für zulässig oder unzu- lässig, wahr oder falsch halten kann. In letzter Konse- quenz läuft das Argument der Kritikerinnen und Kri- tiker des Gomringer-Gedichts ja darauf hinaus, dass man derlei verbieten müsse. Der aggressive Verbots- wahn, der sich darin ausdrückt, ist zu recht kritisiert worden. Was aber in der Diskussion über die geplante Übermalaktion bisher fehlt, ist eine Auseinanderset- zung mit der Art von Poesie, wie Gomringer und an- dere sie geschrieben haben: eine Poesie, die bewusst mit der herkömmlichen Poesie des verführenden Wohlklangs bricht. Für diese Poesie, der Eugen Gom- ringer den Namen „konkrete Poesie“ gegeben hat, ist das Gedicht „avenidas“ nicht nur programmatisch. Es ist außerdem, 1953 veröffentlicht, das allererste Ge- dicht der konkreten Poesie. […] Deren wesentliches Motiv: die fundamentale Angst vor dem Missbrauch der Sprache. Die Erfahrung, wie die Sprache in ihrem herkömmlichen Duktus in der Zeit des National- sozialismus missbraucht wurde, war für die meisten Autoren konkreter Poesie von zentraler abschrecken- der Bedeutung. Deswegen mieden sie die großen Worte, machten die Sprache karg, reduzierten Sätze auf Worte, lösten vom Wort dessen Bedeutung und ließen sie zuweilen als Buchstabenfolge stehen. Das war, wenn man will, ein Reinigungsvorgang. Und die Qualität von „avenidas“? Die Zeilen haben etwas Federleichtes, Schwebendes. Das Große an dem Gedicht ist aber, dass es dabei nicht bleibt. Dass die wie absichtslos hingeworfenen Substantive im Zuge der Wiederholungen wie Schwämme Bedeutung auf- saugen. Dass sie ohne ein einziges Verb eine wahre Beschreibung liefern, eine Frühlings- oder Som- merszene aufrufen. Das gewissermaßen geschmacks- und geruchsneutrale Wort „und“ verkoppelt auf un- auffällige Weise Straßen, Blumen, Frauen und den Bewunderer. Es stellt Verbindungen her, die in der Schwebe, die vorläufig bleiben. Das Gedicht lässt eine eigene Welt entstehen. Und es ist keineswegs so, dass dem Bewunderer am Ende alles zu Diensten ist. Der Bewunderer ist nicht die Hauptperson. Er steht ab- seits. Obwohl er durch die Bezeichnung, die er trägt, der einzige Aktive zu sein scheint, ist er nur das Bei- werk zu den drei substantivischen Hauptakteuren des Gedichts: den Straßen, den Blumen, den Frauen. Ei- nes Gedichts, das man nicht löschen, sondern immer und immer wieder lesen sollte. Quelle: http://schmid.welt.de/2018/02/11/avenidas-y-flores-y-mujeres- ein-konkretes-gedicht-und-eine-unsinnige-zensurdebatte/, 11.02.2018; abgerufen 23.04.2019. 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv
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