Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]
52 Spätmittelalter (1250–1450) Grenzenlos Früher lockten die Ritter, jetzt lockt die Stadt Franz Xaver Kroetz: „Bauern sterben“ (1985) Der Sohn und die Tochter gehen in die Stadt und enden nicht unähnlich Helmbrechts Sohn War für den Sohn des Bauern Helmbrecht die Verlo ckung groß, es den Rittern gleichzutun, so ist die Ver lockung für manchen Bauernsohn und manche Bau erntochter heute die Stadt. So zumindest sieht es der bayrische Dramatiker Franz Xaver Kroetz in seinem Drama „Bauern sterben“. Der „Sohn“ und die „Toch ter“ – beide tragen keinen Namen – fliehen von ihrem Bauernhof, wo ein tyrannischer Vater herrscht. „Hei- mat ist Scheiße“ , so ihre übermütige Parole. War das Rittertum Helmbrechts Traumwelt, so ist es für „Sohn“ und „Tochter“ die Stadt. Sie lockt mit den Bildern der Werbung: dem „Alleskönner von Mulinex“, „Gilette-Kon- tur“, dem „Alfa-Spider“, „Clerasil“, dem „Chrysler-Cabrio- let Le Baron“, „Duplo, Duplo, Duplo“ und dem „Fisch mäc“ . Doch die Sehnsucht nach einem besseren Leben scheitert. Sie finden weder Wohnung noch Arbeit, zum Essen kaufen sie Hundefutter in Dosen, was bleibt, ist die Selbstausbeutung. Die Tochter verkauft sich, der Sohn zapft sein Blut ab und verkauft es. Ihre Erfahrun gen fasst der Sohn zusammen: „Die Schdod nimmt oam s Gsicht, […] do bleibt nix, da Kopf werd za- quetscht.“ Die Tochter: „Die Stadt ist der Metzger.“ Um Heimat zu haben, wälzen sie sich in einem Klumpen Heimaterde. Dann kehren sie zurück. Aber es gibt kein Zurück mehr, so wenig wie für den jungen Helmbrecht. Der Hof ist verfallen, ihnen bleibt nur mehr so viel Bo den, wie über dem Grab von Mutter und Vater liegt. Auf dem Grab der Eltern lassen sie sich einschneien, Symbol für ihren Tod. Die Schwächeren, in diesem Fall die Bauern, haben keine Chance, den wirtschaftlichen Zwängen zu entgehen. In der Stadt scheitern die Bau ern, auf dem Land ebenso, wie folgende Szene zeigt: Die Geschwister fahren in die Stadt, die Straße ist aber gesperrt. Ein Bauer verteidigt mit dem Gewehr in der Hand seinen Wald gegen eine neue Stromleitung. Ein Wald, Holzarbeiter; Sicherheitskräfte, Hindernisse, ein tobsüchtiger Bauer; die Geschwister auf dem Trak- tor, sie können nicht weiter. Bauer (tobsüchtig mit einem Gewehr herumfuch- telnd) : Was verteidigts denn ihr? Verteidigts ihr mich oder das Elektrizitätswerk? Verteidigts ihr meinen Wald oder verteidigts ihr die Überland- masten? Ich sag es euch: Wer einen von meinen Bäumen anlangt, den brenn ich mit einer Kugel nieder. Wenn einer seine Motorsäge anwirft, dann stirbt er. Für mich gibts keine Enteignung. Ich bin ich. Und mein Wald ist der meine und das seit sechs Generationen. Wer von euch Halunken hat sechs Generationen, die er nachweisen kann? Wer? Ihr wissts nicht einmal, wer euer Vater ist; so wird das sein bei euch heimatlosen Hunden. Was ist ein Mensch gegen einen Baum? Wer einen von meinen Bäumen anrührt, der ist ein toter Mann. (Er sieht die Geschwister.) Nachbar, du kommst grad zur rechten Zeit! Schau her, wie sie es mit mir treiben. Heute ich, morgen du! Hilf mir, Nachbar! Fahr sie alle nieder mit dem Traktor, fahr sie zusammen! Fahr du sie zusammen, ich schieß sie zusammen! Helfen wir zusammen! Erst kommt der Wald dran, dann kommt der Bauer dran. Die Kettensäge an meinem Baum sägt mir den Kopf vom Leib, spürst es, Nachbar! Dein Kopf ist mein Kopf. Helfen wir zusammen, Nachbar, gegen die aus der Stadt. Die aus der Stadt sind unser Tod. Die Stadt und das Land sind natürliche Feinde! Gott war ein Zimmermann, warum war Gott kein Bauer? Der Pfarrer segnet, was mich vierteilt. Hilf mir, Nachbar! Dein Leib ist mein Leib, mein Blut ist dein Blut, mein Fleisch ist dein Fleisch. Heut ich, morgen du. Hilf mir! Fahr sie zusammen! Sohn: Dich fahr ich zusammen, wenn du nicht weggehst. Wennst uns nicht weiterlässt. Dein Wald ist uns im Weg. Da wollen wir durch, da müssen wir durch. Das ist der kürzeste Weg für 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen fassung Literatur übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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