Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

463 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Klaus Zeyringer: Minus 6,4 Milionen Leser innerhalb von fünf Jahren Die Welt des Buches ist in Gefahr. Immer weniger Leser greifen zu immer weniger Titeln. Vor allem jüngere Ge- nerationen sind schwer zu erreichen. In den Verlagen ist die große Sorge eingekehrt, vor allem in den kulturell renommierten. Einige Ent- scheidungen lassen gar auf Panik schließen. Hausau- toren finden sich plötzlich vor die Tür gesetzt, Projek- te werden mit merkwürdigen Begründungen abge- lehnt. Mit den ohnehin wenigen Gewissheiten über die Mechanismen des Publikationsgeschäfts, heißt es, sei nicht länger zu rechnen. Als besonders schwer- wiegend beklagen Editoren, dass komplexere Texte nicht mehr vermittelbar seien. Wir ahnen: Musil, Joyce, Proust würden heute keine Verleger finden. Junge Generation bleibt Büchern fern. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels ver- öffentlichte kürzlich Zahlen und Analysen zur Mise- re. Seit 2012 ist das Lesepublikum um 6,4 Millionen geschrumpft. Bislang zeitigte der Absturz nur gering- fügige Auswirkungen auf den Gesamtumsatz, da er zwar bei den 40- bis 50-Jährigen um 37 Prozent zu- rückgegangen ist, aber die über 50 Jahre alten Men- schen mehr und teurere Werke erstehen. Schlimmer: Die junge Generation bleibt Büchern fern. Die poten- ziellen Leserinnen von morgen greifen zu Computer- spielen und TV-Serien; sie haben sich ins Internet verzogen, in Simulation, Verkürzung. Die digitalen Medien bewirken bekanntlich immense Reizüberflu- tungen und Aufmerksamkeitsstörungen. In ihrer Knappheit, ja Fragmentierung behindern sie ausführ- liche Erzählung und assoziatives Denken. Für vieles erweisen sie sich als durchaus nützlich – freilich im Zusammenspiel mit anderen Kulturtechniken wie eben dem Lesen von Büchern und Zeitungen. Wer sich dauerhaft einzig dem Digitalen hingibt, mag und kann ausführliche Argumentation, differenzierte Wertigkeiten und mehr als einen Nebensatz nicht aufnehmen. Wer jedoch anspruchsvolle Bücher liest, vermag sich in ungewöhnliche Möglichkeitswelten zu versetzen, einem Denkfluss abseits des Mainstreams zu folgen. Eine Gesellschaft, der es an originellen Geistern mangelt, wird auf Dauer bestenfalls bewah- ren, schwerlich aber erneuern. Programmkürzung und Stapelwesen Die Buchläden reagieren wie die Verlage mit Konzen- tration, also Programmkürzung und Stapelwesen. Immer weniger Autoren verkaufen immer mehr, während immer mehr Autoren immer weniger ver- kaufen. Wer vor ein paar Jahren von einem Roman, sagen wir, zehntausend Exemplare absetzte, müsste sich nun bei demselben Werk mit dreitausend begnü- gen. Der Beruf der ernsthaften Schriftstellerin, des fundierten Publizisten tendiert zum Prekariat. Auch in der zweiten Reihe der Erfolgreichen gehen die Auf- lagen zurück, es braucht heute deutlich weniger, um auf Platz 10 der Spiegel-Bestsellerliste zu landen. Nicht die Qualität, nicht die nötige Freiheit der Sprachkunst steht im Vordergrund. Vielmehr üben außerliterarische Diskursvorgaben immer stärkeren Druck auf das Schreiben aus. In einem bestürzenden Lagebericht hat Tina Uebel vor einigen Wochen in der „Zeit“ vor Augen geführt, wie Moralbedenken – nicht zuletzt von Verlagen und Medien – die schrift- stellerische Arbeit einschränken. Sie konstatiert, wie eine Political Correctness sukzessive die kreative Freiheit beschneidet; wie ein „Verlust des Weltver- ständnisses“ von anderen Kulturen nur ein Zerrbild zulasse, das „unseren kulturellen Präferenzen“ ent- spreche. Gepaart sei dies mit einem Verlust des Sprachverständnisses, der Unterscheidungsfähigkeit, des Humorverständnisses und der Debatte. In voraus­ eilendem Gehorsam würden Lektorate und Redaktio- nen die Rotstifte ansetzen. Wenn eine Gesellschaft die Darstellung komplexer Verhältnisse erschwert, läuft sie auf das Schwarz/Weiß-Denken hinaus. Laut Ro- bert Pfaller erleben wir eine weitreichende Infantili- sierung bei gleichzeitiger Brutalisierung gesellschaft- licher Verhältnisse. Die Entsolidarisierung heißt „Ei- genverantwortung“. Um derartiges Schönfärben hin- zunehmen, bedarf es einer Herrschaft der Oberflächlichkeit. Für entsprechende Stillstellung und Ausrichtung sorgen alte, neue und euphemis- tisch „sozial“ genannte asoziale Medien. Sie halten den intellektuellen Ball flach, ihre Programme beste- hen größtenteils aus Sport, Krimi, Fantasy. Kein TV- Tag ohne Fußball, kaum eine Buchhandlung ohne stapelweise Krimis und Fantasy. Der Sport sorgt für Ablenkung, dient als Ventil, formt Gemeinschaft, steigert den Nationalismus. Das Grundmuster des Krimis arbeitet mit Angst und dem Ruf nach Schutz durch die Staatsgewalt. Wer liest denn noch, sagen wir: den Faust, wer gar den zweiten Teil? Nicht ein- mal die meisten Kandidatinnen fürs Deutsch-Lehr- amt. Die Vorschläge der vom Börsenverein beauftrag- ten Gesellschaft für Konsumforschung zur Behebung der Misere klängen lustig, wäre die Lage nicht so 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum d s Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=