Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

459 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt die Wünsche bleiben die gleichen. Hier: ist es schwer, sich als Mensch zu begegnen, weil die Sorten des Schicksals so undurchschaubar sind. Ich bin mir nicht sicher, mit welchen Augen man den Armen in die beschwörenden Mienen sehen kann. Die Gesichtszüge sind zerfressen und verschwun- den und die vertrauten Linien des Menschen scheinen irgendwo verloren gegangen in den Müllbergen. Hier: ich vergesse in den erodierten Gesichtern die Gemeinsamkeiten, die alle verbin- den, und die Bettelnden vergessen über der wütenden Gier, dass man nicht nur ein Dollarzei- chen ist. Letzten Endes ist dann jeder vom anderen gekränkt und enttäuscht von sich selbst. […] Hier: tut die Welt erst ein bisschen weh und dann unendlich. Das Licht fällt alle zehn Minuten aus und auf den Ständen der nächtlichen Händler brennen die Gaslampen und Kerzen. Es ist eng in jeder Ecke der Stadt und in den Stacheldrähten hängen Müll und Kleiderfetzen, in den Müllbergen findet man Menschen und in den Kleiderfetzen findet man manches Mal tote Embryonen. Jene Ausländer, die es sich leisten können, mieten für ein paar Dollar einen ganzen Linienbus, um nachts nach Hause zu kommen. Es gibt eine Million Rikschas und die Fahrer strampeln und schieben ihre stierenden Kunden mit schwitzenden Leibern und um den Bauch zusammengebundenen Tüchern wie Tiere unter Peitschen. Die Welt macht mir mehr Sorgen als sonst. Ich suche meine Sehnsucht in den Augen der anderen und finde nur fremde Wünsche. […] Die Bedrängnis der Großstadt schwindet erst mit der Erleichterung des Landes. In den regenverhan- genen Teegärten Srimangals 1 fährt man mit chinesischen Klapprädern durch die Gegend und die Teepflücker wiegen sich unter den Körben auf ihren Köpfen im Wind. Wenn sie lachen, fallen die Teeblätter von ihren Häuptern und regnen zu Boden, als wäre es Herbst. Man kann erst verstehen, wie man hier lebt, wenn die Sonne untergeht und die Nächte beweisen, dass es die Tage gibt. Erst im Sonnenuntergang wird das Land ein Land. Dann staunt man aus den Fenstern hinaus über die Bilder und betastet die rissigen Hennabemalungen der Haut wie lieb gewonnene Wunden. Die alten Frauen tragen hier die schwarzweißen Spinnen, die von den Bäumen fallen, wie Schmuckstücke auf der Stirn zwischen den Augen. […] Auf den Hochzeitsumzügen sitzen die unglückli- chen Bräute unter Blumenketten und mit Schwei- gen auf den Lippen, aber die Männer lachen mit von Betelnüssen rot gefärbten Zähnen. Die Fliegen sitzen auf meinen Muttermalen und man träumt auf den Straßen. Manchmal ist es zwischen dem Hier und Dort immer nur die Sehnsucht des einen nach dem anderen, die einen beschäftigt und nicht loslässt. Und das Glück der Hoffnung auf Glück. Ich reise dem Verschwinden hinterher und ich verschwinde aus der Stadt mit Gedanken an die Zukunft. Über den Gassen liegen die Dünste von Aas und vergorenem Obst und die Wassermelonen sitzen wie fette Weiber in grünen Kleidern an den Straßenrändern. Über den Slums und den tausend Dächern von Dhaka hängen die Regenbögen wie ein Lächeln und verblassen schüchtern in Sonnen- schein und Smog. Ich schaue über die Dächer und das Ende der Dächer der Stadt ist wie ein Strand am Horizont. ■■ Erklären Sie, welche soziale und psychologi­ sche Situation der Menschen aus den Beobachtungen der Autorin ableitbar ist. Belegen Sie Ihre Erklärung mit den entspre­ chenden Textstellen. ■■ Analysieren Sie die Gedanken der Autorin zur von ihr gesehenen Schwierigkeit, „sich als Mensch zu begegnen.“ ■■ Beschreiben Sie den Unterschied zwischen Stadt und Land. ■■ Kommentieren Sie die Beobachtung zur Stellung der Frau. 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 1 Bezirk im Nordosten von Bangladesch 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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