Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

458 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Grenzenlos Reisen Zwar ist Reisen nicht immer grenzenlos, aber sehr oft Grenzen überschreitend. Nahezu grenzenlos sind aber jedenfalls die literarischen Reisen, welche österreichi­ sche Gegenwartsautorinnen und -autoren unterneh­ men. Sie folgen Forschungsreisenden nach Timbuktu, wie Thomas Stangl in seinem Roman „Der einzige Ort“, steuern, wie Raoul Schrott in „Tristan da Cunha“, auf die entlegenste Insel der Erde, folgen Alexander von Humboldt an den Orinoko – Daniel Kehlmann „Die Ver­ messung der Welt –, lassen Riesen reisen, wie Micheal Köhlmeier in „Das Lied von den Riesen“. Josef Haslin­ ger berichtet in „Phi Phi Island“ von seiner Rettung aus dem thailändischen Urlaubsparadies, das 2004 von ei­ nem Tsunami zerstört wird, Franzobel folgt dem Schiff Medusa und besonders dem „Floß der Medusa“, auf dem 15 Menschen von ursprünglich 147 unter un­ menschlichsten Umständen überleben. Karl-Markus Gauß reist mit Christian Thanhäuser „Die Donau hin­ ab“, René Freund im Bus „Ans Meer“ und Martin Aman­ shauser in „alles klappt nie“ sogar in den Weltraum. In der Folge finden Sie ein ausführliches Beispiel aus den Reisen der österreichischen Gegenwartsliteratur. „Hier: tut die Welt ein bisschen weh und dann unendlich.“ Valerie Fritsch: „Die Welt ist meine Innerei“ (2012) Reisebriefe und Reisefotobilder Weil die Tickets so günstig sind, fliegt Valerie Fritsch unmittelbar nach der Matura nach Äthiopien. Es habe sie einfach eine „genetische Unruhe“ erfasst, berichtet sie in einem Interview. „Ich war überhaupt nicht vorbe- reitet, bin ohne Reiseführer dorthin aufgebrochen“ , be­ richtet sie. Zwei Monate bleibt sie dort, arbeitet in ei­ nem Kinderkrankenhaus: Dort geben die Kinder „ei- nem hungerbäuchige Küsse, die an den Poren kleben“ , Eltern „hängen nachts durchsichtige Plastiksäcke mit ihren spindeldürren Säuglingen an die Tore des Kran- kenhauses und morgens findet man die Kinder […] an der Türklinke baumeln.“ Weitere Stationen, von denen Fritsch in Form von Briefen und Fotos berichtet, sind unter anderem Peru, Vietnam, Madagaskar, Kuba und Bangladesch. Auf dieses Land beziehen sich die fol­ genden Ausschnitte. Wer hier in Bangladesch ist, ist weit gegangen, auch wenn er nicht immer weit gekommen ist. Im Grund der ewig feuchten Betten und angesoffenen Kopf- polster schreckt man hoch aus den Träumen von daheim. Es ist so heiß, dass man es vergisst. Auf den Straßen winden sich die beinlosen Bettler. In der Dunkelheit ist die Luft voll von lauernden Teufeln, Flüchen und Amuletten. Die Falten der Bettdecken sind Dächer aus Stoff über den Köpfen der Menschen, die auf den Straßen schlafen. Eine wütende Armut hasst die Welt und lässt den zornigen Mob die Fahrer der Autounfälle lynchen in der Hitze, egal wer Schuld trägt. […] Ich stehe in den Hauseingängen und warte, bis sich die Wüten- den wieder zu einer Masse schließen und zähle die Straßenkinder, deren Hände man wie Ringe um die Finger findet, wenn man an sich hinabschaut. Ich schaue und das ist alles, was ich tue. In den Hinterhöfen der wenigen Sehenswürdigkeiten waschen die Wächter ihre staubigen Füße und schuppen silbrige Fische nebeneinander in den Plastikwannen. Die weißen Kätzchen sind wie Fischgräten und staksen auf knochigen Beinen in den Schatten der Gebetsecken. Die schwarzen Katzen liegen flach vor den Bretterverschlägen: verhungert und vertrocknet in der Sonne. Die Männer haben vernarbte Stirnen vom Beten auf den derben Teppichen, auf denen sie knien und die Köpfe niederwerfen vor Allah. […] Im Hotel muss man ankreuzen, welche Hautfarbe man trägt und wählt zwischen Dark , White und Medium . Man zweifelt und man verzweifelt, aber 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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