Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

454 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Einfach Lust am Schreiben Doch das Thema der Fremdheit und der Ausgrenzung oder des kritischen Blicks auf politische Vergangen­ heit und Gegenwart ist nur eine Seite literarischen Schaffens der Migrantinnen und Migranten. Im Mit­ telpunkt steht, wie der aus der Türkei stammende Ercüment Aytac erklärt, „die Lust am Schreiben. Das Spiel mit der Sprache.“ Diese Lust am Schreiben kennzeichnet auch die Texte von Barbi Marković . 2016 erschien ihr preixsgekrönter satirischer Roman mit Fantasy-Elementen „Superheldinnen“ . Mascha, Di­ rektorka und die Ich-Erzählerin sind, so wie die Auto­ rin selbst, aus Belgrad und Sarajewo nach Wien ge­ kommen: Wir drei waren aus den Hauptstädten benachbarter Länder hierhergezogen und hielten uns nach Kräften über Wasser, wobei wir ständig nach der bürger- lichen Mittelschicht schielten, der wir uns zugehörig fühlten, mit dem Herzen jedenfalls, nicht jedoch mit dem Budget. Doch sie verfügen über die von ihren Ahninnen er­ erbte „darke“ Fähigkeit, ihre Mitmenschen dadurch zu beeinflussen, dass sie angenehmen Leuten einen „Blitz des Schicksals“ senden und die Bösen mit Aus­ löschungen bestrafen. Aber vor allem stehen sie vor der Frage, ob auch sie in ihr eigenes Leben eingreifen sollten und in welcher Form. Jede Woche treffen sie einander im Café Sette Fontane. Rückblickend berich­ tet die Erzählerin über einen unglaublichen Wende­ punkt, der ihnen endlich ermöglicht, das „Leben aus der Werbung zu leben“ und „Ziegenmilchjoghurt“ zu essen – doch nein, sie essen es nicht, sie hassen Zie­ genmilchjoghurt und kaufen es nur, weil sie es sich kaufen können. Etwas Unerwartetes war passiert, und unsere Leben waren danach nicht mehr dieselben. Der entschei- dende Tag war ein Samstag im Sette Fontane. Heute weiß ich, wie alles ausgegangen ist, und kann daher einiges aus unserer Vergangenheit erklären und unsere Gewohnheiten beschreiben. […] Bis zum Schluss deutete absolut nichts darauf hin, dass alles gut ausgehen würde. Die schlechten Vorzeichen waren allgegenwärtig. Auf dem Weg zum Siebenbrunnenplatz stieß ich an der Treppe auf einen Kotzfleck mit einem Durchmesser von einem halben Meter und dachte, dass nun die Zeit für Veränderungen gekommen war. Zumal mitten in der gelben Säure eine Taube stand und aß. Da die Masse flüssig war, warf die Taube von Zeit zu Zeit den Kopf nach hinten, um besser schlucken zu können, und von ihrem Gesicht ließ sich ablesen, dass sie glücklich war, während sich von meinem Gesicht ablesen ließ, dass ich nicht glücklich war. Dabei fiel mir ein, dass die Städte uns immer wieder kauten und ausspuckten; und wir zogen unermüd- lich um, vergrößerten unsere Reichweite. Es fiel mir auch ein, dass die Tauben auf die gleiche Weise herumflogen, ständig auf der Suche nach schmutzi- gen Terrassen mit vollen Mistkübeln, von denen niemand sie mit einem Besen verjagen würde, darüber hinaus hegten sie sogar die Hoffnung, dass ein einsamer und kranker Mensch im Ruhestand ihnen erlauben würde, ein Nest unter seinem Bett zu bauen. […] Wie dem auch sei, als ich die widerliche Szene auf der Treppe beobachtete und mir sagte, dass die Zeit reif war für Veränderungen, da dachte ich an ganz bestimmte Veränderungen. […] Ich weiß noch, wie wir alles (außer den Textilblu- men, die angeklebt waren) vom Tisch räumten, damit der Kellner genug Platz hatte, um drei ovale Tabletts aus Blech mit drei Kaffees und drei großen Gläsern Wasser abzustellen. Er brachte uns jeweils ein großes Glas Wasser, weil er unsere Gewohnhei- ten schon kannte. Er wusste, dass wir im Laufe einiger Stunden im dunklen Kaffeehaus am Sieben- brunnenplatz ein oder zwei Getränke zu uns nehmen würden, und außerdem dachte er, dass unser Lebensstandard niedrig sei, so wie bei den meisten Gästen des Sette Fontane. Er war wahr- scheinlich der Meinung, dass wir nicht viel verdien- ten, und er hatte recht. „Wir essen zu Hause“, sagten wir, obwohl uns niemand danach gefragt hatte. Wir waren mit wertlosen Fähigkeiten ausgestattet, und deshalb brachte uns nichts, was wir tun wollten und konnten, genug Geld ein. Auf der Rangliste der Menschen standen wir nicht besonders weit oben. Wir machten wirklich widerliche Dinge, um zu überleben. Man konnte uns alles Mögliche nachsa- gen, nicht jedoch, dass wir das Leben nicht kann- ten. Das Leben kannten wir in schlechtem Licht, wie den Körper eines kranken Klienten, den wir schon oft gebadet und an- und ausgezogen hatten. Wir hatten Erfahrung und wir hatten die Nase voll. Mascha begann. Sie holte ein Blatt Papier mit ihrem Vorschlag aus einer Klarsichthülle und gab es uns zu lesen. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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