Literaturräume, Schulbuch [Prüfauflage]

453 Gegenwartsliteratur – mit Österreichschwerpunkt Sie sind sehr interessiert. Ich bin erstaunt, dass sie Alkohol trinken, während sie über Politik sprechen, und mit roten Augen über Werte urteilen, für die ich gekämpft habe. Die Diskussion hat kein Ende. Ich möchte gehen. Als wir uns verabschieden, steht wieder niemand auf. Bestimmen Sie die das „Ich“ des Textes befrem­ denden Faktoren. „Halbe Russin, halbe Serbin“ und ein Roman auf Deutsch Als „halbe Russin, halbe Serbin“ wird die 1992 im Alter von elf Jahren aus Sarajevo nach Österreich emigrierte Mascha Dabić in einem Interview im „Standard“ vor­ gestellt. Sie studierte Übersetzungswissenschaften und arbeitet als Dolmetscherin in einer psychothera­ peutischen Einrichtung für Flüchtlinge und Asylwer­ ber. Auch Nora, die Protagonistin ihres 2017 publizier­ ten Romans „Reibungsverluste“ , ist in einer solchen Institution als Übersetzerin tätig: Sie fand es verstörend, wie sich eine Lebensge- schichte, die sich in vielen intensiven Gesprächen wie ein Mosaik allmählich zusammenzusetzen begann, in der Sprache der Bürokratie auf eine „Foltergeschichte“ reduzieren ließ, die wiederum in ihre Einzelteile zergliedert wurde – Anzahl und Funktion der Täter, Häufigkeit der Folterung, angewandte Methoden und Werkzeuge, physische und psychische Folgeerscheinungen. Aus dem Menschen, an dessen Lippen sie Stunde um Stunde gehangen war, um Sinn und Ausdruck so vollstän- dig und unverfälscht wie möglich aufzunehmen, wurde im Formular ein „Opfer“ oder ein „Überle- bender“, alles kompakt auf maximal drei formatier- te A4-Seiten zusammengefasst. […] Nora bereitete es Unbehagen, wenn sie diese Berichte übersetzen sollte, weil es ihr paradoxerweise viel schwerer fiel, die kompakte, schwarz auf weiß abgefasste Folterge- schichte zu ertragen als die gestammelte, hervorge- presste oder unter Tränen in einem Wortschwall nach außen drängende Erzählung in der Thera- piestunde. Wenn Folter oder Vergewaltigung zum Thema in der Therapie wurden, und früher oder später war das bei jedem Klienten der Fall, dann hielt sich Nora krampfhaft an ihrer Wahrnehmung fest, studierte aufmerksam den Gesichtsausdruck des Klienten, starrte auf die in sich zusammen- gesackte Topfpflanze am Fenster, trank einen Schluck Wasser, betrachtete die Hände des Klienten oder fummelte selbst an einem Taschentuch herum, konzentrierte sich auf das Dolmetschen. […] Reibungslos sollte die Kommunikation ablaufen, das war das Ideal, keine Reibung, keine Verluste. […] Wenn die kritischen Augenblicke vorüber waren, spürte Nora gemeinsam mit dem Klienten die Erleichterung darüber, dass das Unsagbare schließlich doch noch ausgesprochen worden war und sogar den Weg in eine andere Sprache gefun- den hatte, sie war froh, daran mitgewirkt zu haben, dass diese Worte nach außen drängen konnten, wo sie gut aufgehoben waren, wo sie nicht, wie sie es etwa bei der Polizei oder bei Gericht erlebt hatte, jederzeit gegen den erschöpften Sprecher verwendet werden konnten und auf etwaige Widersprüche abgeklopft wurden. Nach solchen Therapiestunden fühlte sich Nora angesteckt und beschmutzt von einem Grauen, von dem sie nichts wissen wollte, durchdrungen vom sicheren Wissen darum, dass Menschen einander entsetzliche Dinge antaten, und zwar nicht irgend- welche Menschen irgendwo irgendwann, sondern da, hier, saß ein solcher Mensch, dem so etwas angetan worden war, ein Mensch, der nicht nur Opfer, sondern auch Zeuge der Grausamkeiten war, die ein Krieg produzierte oder aber, da war sich Nora nicht ganz sicher, bloß zum Vorschein brachte. ■■ Beschreiben Sie die Kritik, die Nora an der Bürokratisierung der Flüchtlingsaufnahme übt. ■■ Erläutern Sie Noras unterschiedliche Reaktionen während und nach ihrer Übersetzungsarbeit. ■■ Interpretieren Sie den letzten Absatz. 18 20 22 Aufgabe 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 Aufgabe Überblick Fundament Leseraum Maturaraum Zusammen­ fassung Literatur­ übersicht Grenzenlos Fokus Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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